Tag 4
Tschierv - Val Mora - Grosio - Rifugio La Baita
91 km (+7), 2.100 HM (+700 HM)
"Et hätt noch emmer joot jejange."
Unsere Strecke des 4. Tages - hier fehlen noch 3-10km am Ende
In der Schweiz kann man echt gut schlafen. Alles tutti, das Abendessen lecker (und teuer), die Bikes sicher in der Bikegarage. Beste Voraussetzungen für Erholung. Der Wirt war bestimmt auch gut ausgeruht vom anstrengenden Abend. Geld zählen ist ja richtig Arbeit. Und da man hier direkt gern klare Verhältnisse schafft, begrüßt uns im Frühstücksraum ein Hinweisschild, dass jede für den nicht vor-Ort-Verzehr geschmierte Stulle 5 SFr kostet. Kurzzeitig hatte ich überlegt, das zu machen und eine 20cm dicke Stulle zu bauen, lächelnd 5 SFr auf den Tisch zu legen und zu gehen. Aber es gibt ja wichtigeres als die Leute zu ärgern, also schnell zu den Rädern, alles verstauen - den Verlust einer Ölflasche beklagen (der Fimberpass forderte halt so seine Tribute) und dann nix wie los. Denn heute wartet eine Hammer-Etappe auf uns. Knapp 100km und fast 3000 HM sind geplant.
Erstmal waren ein paar KM Radwege angesagt. Der Himmel bedeckt.
Die ersten Kilometer fuhren wir auf Radwegen im Val Müstair langsam Richtung Osten, um nach 6km in den knackigen Anstieg zum Hochplateau Val Mora in Richtung Süden einzudrehen.
Unser Wirt hatte zwar anerkennend die Landschaft vom Fimberpass und Pass de Costainas gewürdigt, aber gesagt heute werde es im Val Mora nochmal schöner. Dementsprechend waren wir natürlich gespannt.
Einstieg ins Val Mora.
Zuerst dachten wir nun gut, so ein asphaltierter Radweg in einem Nationalpark ist zwar landschaftlich schön, aber jetzt nicht so des Bikers Endgegner. Fussgänger, E-Biker, Hunde. Immerhin ging es bergauf ;-)
Aber einmal auf dem Hochplateau angekommen wussten wir, was unser netter Wirt meinte. Eine unwirkliche, schroffe, phantastische Landschaft begrüßte uns. Zu unserer Linken und Rechten türmten sich die Berge, das Tal war eine einzige grau-grüne Hölle. Der Weg war zunächst breit und gut fahrbar, es ging die ganze Zeit leicht bergab. So kurbelten wir uns in Kilometer für Kilometer weiter und gaben Gas.
Aufstieg im Val Mora. Endlich Schotter statt Asphalt.
Zur linken Hand wachsen bald die Berge steil empor
So kann man sich dran gewöhnen!
Pause im Val Mora
Kurzer Blick zurück - wir haben schon etliche HM hinter uns.
Mit der Zeit verengte sich das Tal weiter und der Weg wurde schmaler und rückte nah an den obligatorischen Talfluss. Ingo und Ich liessen es richtig krachen, im Renntempo fuhren wir wie im Tunnel. Ein wildes auf und Ab wie auf der Achterbahn - kurze knackige Anstiege, die man im Stehen wegdrücken konnte, komprimierende Senken und technisch knifflige Passagen. Bike-Himmel!
Grün-graue Faszination
Leider habe ich von diesem Teil nicht all viele Bilder, aber ein paar Videoaufnahmen ;-)
Am Schluss des Tals erwartete uns ein großer Stausee, der aber das Schicksal vieler Stauseen überall in Europa teilt: Fast leer. So wurden gar alte Befestigungen einstiger Siedlungen am Fuß des Stausees sichtbar. Nachdenklich fahren wir weiter um den Stausee - hier sind viele Ausflügler unterwegs und das Tal öffnet sich.
Willi und Lucas beim Überqueren einer der vielen Brücken
Stausee, ziemlich leer.
So leer, dass man sogar alte Befestigungen früherer Zeiten zu Gesicht bekommt
Das macht ganz schön nachdenklich
Wir sind übrigens in Italien! Das macht sich spätestens bemerkbar als wir kurz vor dem letzten 500 HM-Anstieg an einem Imbiss-Bus halt machen. „Due Espressi per favore“. „Due Euro“. Ja, definitiv nicht mehr in der Schweiz. Und damit meine ich nicht die Sprache.
Mit dem kurzen Koffein-Schock fahren wir weiter auf Schotter hinauf Richtung Passhöhe. Auf dem Weg zur Passhöhe müssen Lucas und Ich noch auf die beiden Mitstreiter warten und entschließen uns, unsere späte Mittagspause auf die letzte Almhütte vor dem Pass zu legen. Erschöpft lehnen wir unsere Räder an den Zaun und begrüßen einige Zeit später Ingo und Willi.
Wir kreuzen ein Asphaltband, biegen aber bald wieder auf Schotter ab. Beeindruckend: hier fahren selbst 6-jährige mit ihren Eltern auf dem Rad rauf. Chapeau!
Es läuft, Ingo ist gut drauf - wie gut werden wir nachher merken
Der letzte Anstieg zum höchsten Punkt der heutigen Tour wartet auf uns.
Endlos zieht sich der Anstieg…
Lucas und ich haben einen kleinen Vorsprung herausgefahren…
… und rasten erstmal an der letzten Hütte vor dem Gipfel.
Ingo und Willi kommen zur Verpflegung.
In der engen Hütte geht es wild zu. Eine Wandergruppe von 15-20 Italienern bevölkert den Nachbartisch, auf dem Tisch finden sich unzählige Weinfalschen und eine große Grappaflasche. Die wissen, wie man sich schindet. Wir bestellen Pasta und Cola und schlagen uns noch einmal die Bäuche voll, bevor es zum vermeintlich finalen Kraftakt kommt. Vorher aber genehmigen wir uns noch ein paar Schlücke aus der immer noch auf dem mittlerweile verlassenen Nachbartisch stehenden Riesenflasche Grappa. Lecker!
Vorfreude auf Kalorien!
Auf 2.300 Metern überqueren wir den höchsten Punkt für heute. Ab hier geht es erst einmal lange bergab. Brutaler Schotter wartet auf uns. Eine zwar nicht besonders technische aber material- und knochenbrechende Highspeed-Strecke. Und wen treffen wir hier oben wieder? Natürlich unsere E-Biker Freunde. Die berichten uns erstmal von einem 5m Absturz eines Mitfahrers im Val Mora - die haben ihre Kisten echt nicht im Griff. Mir ist immer noch völlig unverständlich, wie man ohne Techniktraining mit solchen Gefährten in den Alpen rumballern kann.
Letzte Begleiter auf dem Gipfel. Die konnte ich nicht abschütteln ;-)
Auf der Abfahrt muss Lucas mit seiner Alu-Starrgabel wieder arg leiden. Das Abfahrtsvideo lässt erahnen, wie seine Handgelenke protestieren - zum Glück ist er noch jung, und so entsteht das legendäre Foto vom E-Biker versägen.
Lucas zeigt den E-Bikern wie es geht. Mehr von der Abfahrt im Video…
Ab und zu gesellt sich ein kleiner Asphalt-Abschnitt zum groben Schotter, aber die Abfahrt bleibt bis ca. 10km vor Grosio schnell und hart. Dann gibt es zum Ausruhen nochmal 10km Asphalt bergab. Mit 40-60kmh flitzen wir ins Tal. Nur Ingo hat keinen Sinn zum Ausruhen und stocht kamikazehaft hinunter. In Grosio haben wir uns alle wohlbehalten wieder und holen im kleinen Supermarkt nochmal schnell ein paar Cola und ein Bier für Lucas. Wir sind alle ganz schön geschlaucht, von hier geht es aber doch nur noch ein paar Meter Richtung Le Prese.
Das Problem allerdings ist, dass es in Le Prese noch einmal 10km mit 1000 HM nach oben geht ins Rifugio La Baita, unserem heutigen Tagesziel auf 1.800 Metern Höhe. Ich wollte unbedingt noch einmal auf einer Hütte übernachten und nicht nur in Hotels im Tal. Doch nach 90km macht das nicht besonders viel Lust. So ist der Entschluss schnell gefasst: Wir lassen uns in La Prese abholen. Das Problem nur: Der Transfer kann nur bis ins letzte Dorf am Berg erfolgen, von da sind es noch einmal ca. 3km und 300 HM bis zum Rifugio. Okay, aber so sparen wir uns immerhin 700HM.
Auf dem Weg nach La Prese gondeln wir mit leichter Steigung auf Radwegen dahin. Wir wollen alle nur noch ankommen, es ist bereits kurz vor 18 Uhr. Zwei Dinge passieren auf diesem eigentlich langweiligen Transferstück.
Lucas hatte doch sichtlich Mühe die letzten Rampen auf den Radwegen hochzukommen. Fordert das fehlende kleine Kettenblatt doch langsam Tribut?
Ingo hingegen scheint durch die Mörderabfahrt in einem Film zu sein. Er phantasiert: Ich glaube ich fahre da hoch. Äh. Wie bitte? Wir haben den Transfer - der Transporter steht bereit. Aber Ingos Entschluss ist gefasst.
In La Prese steigen wir drei müde in den Bus, der uns in 20 Minuten 700 HM weiter hinauf befördert, während Ingo sich Musik auf die Ohren haut und losfährt. 200m weiter überholen wir Ingo ein letztes mal, Anfeuerungsrufe inklusive.
Erschöpft in den Transfer für 7km bergauf - nur einer Fehlt: Ingo - der fährt selbst!
Dann beginnt die Auffahrt. Ich kenne das so in etwa von mehreren Sommerurlauben, wo wir mit der Familie in einem Bergdorf oberhalb des Lago Maggiore waren. Dort bin ich mit den Rennrad ähnliche Wege hochgefahren. Allerdings ist die Strecke hier doppelt so lang mit Doppelt so vielen Höhenmetern und Ingo hat kein Rennrad, sondern ein Fully mit Gepäck dabei. Es ist fast 19 Uhr, als wir am letzten Parkplatz vor dem Naturschutzgebiet ankommen. Uns wird mulmig. Ingo braucht mindestens noch eine Stunde bis hier hin, so unsere Überschlagsrechnungen. Wenn es gut läuft. Hat Ingo Licht dabei? Nein.
Wir versuchen ihn zu erreichen und zum umkehren zu überreden, denn es dämmert bereits und wir denken er wird frühestens gegen 21:30 an der Hütte ankommen. Aber es gibt hier oben kein Netz mehr. Keine Chance ihn zu erreichen. So treten wir mit flauem Magen den Weg zur Alpe an. Lucas, Willi und ich schieben große Teile der Strecke. >10% schaffen wir heute nicht mehr fahrenderweise. Es wird dunkler und später, erste Regentropfen platzen auf unseren Regenjacken - kein Wetter bei dem man noch stundenlange Gequäle vor sich haben möchte.
Kurz vor dem Rifugio - es nieselt. Und Ingo braucht noch 1,5 Stunden. Uff.
Rifugio la Baita auf 1.860 Metern
Irgendwann kurz vor 20 Uhr kommen wir endlich an. Alessandro empfängt uns. Sein Rifugio liegt in einer kleinen Ansammlung von Häusern und einer kleinen Kirche mitten im Tal auf dem Weg zum Passo dell’Alpe. Es wirkt wie ein Setting aus einer längst vergessenen Zeit. Kein Handyempfang, Versorgung über ein eigenes kleines Wasserwerk. Perfekt um abzuschalten. Aber ziemlich doof, wenn man noch auf einen Mitstreiter warten muss. Das WLAN funktioniert und ich versuche Ingo zu erreichen. Nichts, kein Durchkommen.
Wir sind vollkommen allein im Refugio, das eigentlich Platz für bis zu 16 Übernachtungsgäste bietet.
Auf dem Weg in die Dusche - die anderen sitzen noch beim Begrüßungsbier mit Alessandro zusammen - klingelt mein Handy. WhatsApp-Anruf von Ingo. „HEY! DU LEBST!“. Ingo sagt es läuft, es sei nicht mehr weit, er sehe eine Kirche. Ich bin begeistert! Sofort ziehe ich mir meine Klamotten wieder an und sprinte zu den anderen. Ingo ist da! Alessandro holt mich auf den Boden zurück - nein nein. Er ist in Fumero, dort gibt es auch eine Kirche. Der Unterschied: In Fumero gibt es noch Netz, hier nicht. Puh. Ingo hat also den schwersten Teil überstanden, aber noch eine Stunde vor sich. Erleichtert aber mit dem Wissen dass wir ohne Ingo essen werden und der Abend nur halb so lustig wird, gehe ich in die Dusche.
Ihr könnt euch vorstellen, dass ich nicht schlecht staunte, als ich halb nackt aus der Dusche kam und Ingo mir in voller Montur gegenüberstand. INGO! WAS MACHST DU DENN HIER? Er war tatsächlich durchgefahren. Und die Kirche? Es war die in der Nähe des Rifugios. Wahrscheinlich war sein 2kg-China-Super-Android-Outdoor-Handy ausserhalb jeder erlaubten Sendeleistung unterwegs und hatte doch noch ein Signal aus dem Tal erwischt als wir telefonierten. Unglaublich! Was für eine Leistung. Ingo war nicht nur die komplette Strecke, die wir mit dem Auto gefahren waren, hochgekurbelt - sondern auch noch die grobe Schotterstrecke, die wir größtenteils nur schiebend zugebracht hatten, komplett gefahren. Und dann nur 45 Minuten nach uns angekommen.
Das Essen schmeckte so gut wie noch nie auf dieser Tour und die telefonische Bitte aus Grosio an Alessandro die Sauna anzuwerfen war die Krönung dieses anstrengenden Tages. Wir fühlten uns wie Könige und freuten uns besonders mit unserem Oberkönig, der schier unglaubliches geleistet hatte.
Vereint!
So gut haben wir selten geschlafen. Danke nochmal an Alessandro für die tolle Gastwirtschaft!