Kinematik – neu gedacht
Muss man beim Mountainbike die Kinematik neu denken? Eigentlich funktionieren die meisten Bikes doch sehr gut und Fehlkonstruktionen wie High-Pivots ohne Umlenkrolle wie zu Anfang der Fully-Entwicklung gibt es heute nicht mehr. Mit Linkage gibt es ja auch eine Software, die Kennwerte wie „Anti-Rise“ und „Anti-Squat“ berechnet, damit die Kinematik so funktioniert wie sie soll.Aber ich kann mich an eine Diskussion erinnern als es beim Kavenz um die Kinematik ging: Link. Da ging es ganz schön hoch her und selbst die Experten waren sich manchmal nicht so ganz einig.
Also denke ich doch mal „neu“ und wir sehen, wohin das führt.
Die Grundidee ist hier, dass ich mit einer definierten Pedalkraft von 100 N starte und mich über die aus der technischen Mechanik bekannten Prinzipien vorarbeite. Es wird ein System freigeschnitten und über Kräfte- und Momentengleichgewicht werden die unbekannten Kräfte ermittelt.
Für ein beliebiges freigeschnittenes System muss dabei immer gelten:
- Summe aller Momente = 0
- Summe aller Kräfte = 0
Level 0: Crankset
Hier wird zunächst nur die Einheit „Kurbeln, Pedale, Kettenblatt“ betrachtet. Um das Tretlager wird ein Momentengleichgewicht aufgestellt. Die Pedalkraft ist hier mit 100 N festgelegt und aus dem Momentengleichgewicht wird die Kettenkraft berechnet.Als Resultierende ergibt sich gleich noch die Kraft im Tretlager. Links oben im Bild ist ein Kräfteplan zu sehen. Damit die Bedingung „Summe aller Kräfte = 0“ erfüllt ist, müssen alle Kräfte zusammen ein geschlossenes Vieleck ergeben.
Level 2: Back Wheel
Moment – wir sind mit Level 0 gestartet. Wo ist denn Level 1 hingekommen?Level 1 ist reserviert für die Umlenkrolle im Zugtrum der Kette. Unser Versuchskaninchen hat keine Umlenkrolle, daher überspringen wir diesen Teil erst einmal.
Weiter also mit Level 2, dem Hinterrad.
Hier ist zunächst nur die Kettenkraft aus der Betrachtung von Level 0 bekannt. Über ein Momentengleichgewicht um die Hinterradachse wird nun die Vortriebskraft am Boden berechnet. Und wie zuvor wird ein Kräfteplan gezeichnet und man erhält noch die Kraft in der Hinterradachse.
Level 3: Bike+Rider
Nun ein großer Schritt: wir betrachten das Gesamtsystem aus Bike und Fahrer. Hier fließen jetzt der Radstand und – ganz wichtig – die Schwerpunkthöhe mit ein.Die mit Level 2 berechnete Vortriebskraft braucht eine Gegenkraft (in der technischen Mechanik „d’Alembertsche Hilfskraft“ genannt). Typischerweise greift diese Gegenkraft im Schwerpunkt an. Wobei man je nach Fahrwiderstand diskutieren könnte, ob das korrekt ist. Für den Luftwiderstand und den Rollwiderstand wären evtl. andere Annahmen passender. Aber zumindest für Beschleunigungs- und Steigungswiderstand ist die Betrachtung in Ordnung.
Die Vortriebskraft am Boden und die Gegenkraft im Schwerpunkt erzeugen ein Moment, das durch die dynamischen Radlasten ausgeglichen wird.
Dadurch erhalten wir am Hinterrad zwei Kräfte. Die Resultierende daraus verläuft in Richtung der 100%-Anti-Squat-Linie.
Level 4: Suspension
Nun gehen wir wieder einen Schritt zurück und betrachten nur noch das System „Hinterrad + Hinterbau“. Die oben beschriebene Resultierende am hinteren Radaufstandspunkt ist nun bekannt. Die Kettenkraft am Ritzel ist ebenfalls bekannt.Unbekannt ist noch die Kraft am Schwingendrehpunkt – und da ist noch eine Kraft in der Hinterachse. Wo kommt die denn her?
Jetzt kommt der eigentliche Trick bei meiner Betrachtungsweise.
Eigentlich müssen wir hier bei Level 4 die Dämpferkraft mit einbeziehen. Unser Versuchskaninchen ist ein simpler Eingelenker, da wäre das recht einfach. Aber das Ziel ist ja, dass auf den Dämpfer beim Pedalieren gar keine zusätzlichen Kräfte wirken. Also setze ich die Dämpferkraft hier einfach gleich Null.
Bei einem perfekten Hinterbau wäre jetzt die Welt in Ordnung: die Kräfte im Radaufstandspunkt, in der Kette und im Schwingendrehpunkt wären im Gleichgewicht. Da das in den seltensten Fällen wirklich so ist, benötigen wir noch eine Kraft, um das System ins Gleichgewicht zu bringen.
Und das ist eine Hilfskraft in der Hinterachse. Diese Hilfskraft ist eine rein virtuelle Kraft. Sie ist nicht wirklich da, sie zeigt mir aber, welche Kraft hier wirken müsste, um das System ins Gleichgewicht zu bringen.
Der große Vorteil dabei: am Hinterrad weiß ich über Radlast und Sag sehr genau über die Federkonstante Bescheid. Mit der virtuellen Kraft kann man also sehr einfach die daraus resultierende Ein-/Ausfederung des Hinterbaus berechnen.