MTB-News.de

Dreh-Momente am Dienstag
Ungefederte Massen

In der letzten Ausgabe von Dreh-Momente am Dienstag habe ich erzählt, das Gewicht eines Mountainbikes sei gar nicht so relevant – dabei bleibe ich und möchte den Blick auf etwas deutlich Interessanteres lenken: ungefederte Masse. Die wiegt auch etwas und beeinflusst das Fahrverhalten deutlicher als gefederte Masse. Obendrauf gibt’s ein Video von einem Fahrrad, das eine Bordsteinkante hoch fährt…

Vollständigen Artikel lesen …

Wir haben bereits festgestellt: Durch zusätzliche Features und fortschrittliche Herstellungverfahren bleibt die Masse unserer Fahrräder zwar ungefähr gleich – doch die Gewichtsverteilung wird schlechter. Denn die größten Fortschritte in Sachen Leichtbau haben wir am Rahmen und durch den Entfall des Umwerfers beobachten können, während die Räder – bedingt durch die Größenzunahme – eher schwerer geworden sind. Carbon-Felgen in Ehren; der Wunsch nach breiten Felgen und Reifen sowie die dafür benötigte Menge Gummi verhindert wahrhaft leichte Räder. Hinzu kommt: eine 1X12-Schaltung mag in Summe leichter sein als ein 2X10-Aufbau, doch das Gewicht schiebt sich ans Hinterrad. Der Nachteil: Eine Zunahme an ungefederter Masse. Das hat zur Folge, dass die Federung gar nicht mehr so gern Bewegung aufnimmt, weshalb ich hier etwas genauer hingeschaut habe.

# E-Bikes mit Mittelmotor schieben die Massenverteilung in die richtige Richtung - Dadurch liegen die Bikes satt wie ein Downhillbike, trotz weniger Federweg

Aber fangen wir vorne an: Was sind ungefederte Massen, was gefederte Massen? Das Fahrwerk eines Fahrrades ist eine Kombination aus Federung und Dämpfung und sorgt dafür, dass sich die Räder relativ zum Rahmen bewegen können. Die Massen am einen Ende der Federung folgen Unebenheiten direkt, während die am anderen Ende durch die Federung von Unebenheiten entkoppelt werden. Konkret: Reifen, Bremse und Laufrad folgen dem Untergrund direkt (abgesehen von der Federung des Reifens) und sind deshalb ungefederte Massen. Der Rahmen dagegen wird weniger und später von einer Unebenheit bewegt – er ist eine gefederte Masse.

# Getriebe im Rahmen, wie hier am Zerode Taniwha - verschiebt das Massenverhältnis in eine günstige Richtung

Ich habe die Masse aller Komponenten an meinem Fahrrad addiert, die gefedert sind, und all jener, die ungefedert sind. Bei einigen Komponenten ist das offensichtlich: Reifen und Laufradsatz: ungefedert. Tretkurbel und Cockpit: gefedert. Bei Rahmen, Federelementen und Bremsen muss man aber etwas genauer hinschauen, welcher Teil hier direkt durch Bodenunebenheiten beschleunigt, und welcher durch Feder und Dämpfer davon entkoppelt wird. Ich kam auf ungefähr folgende Massen: Ungefederte Masse zu gefederter Masse: 7 kg zu 5,9 kg, entspricht 55 % zu 45 % und heißt weniger kryptisch, dass der größere Massenanteil meines Fahrrades nicht gefedert ist. Das ist eigentlich eine Katastrophe, denn: Der Teil, der sich bewegen soll, wiegt schwerer als der, der eher in Ruhe bleiben soll. Und nach Newton ist das äußerst kontraproduktiv! Denn je schwerer etwas wiegt, desto eher behält es seinen aktuellen Zustand bei, und desto mehr Kraft wird benötigt, um diesen Zustand zu ändern.

# Der Reifen ist bereits komplett komprimiert - da rührt sich die Federgabel noch kein bisschen aus ihrem Sag heraus. Kein Wunder, sie und das Rad sind schlicht zu schwer, um sich in nur 13 ms in Bewegung zu setzen!
# Sekundenbruchteile später ist der Reifen bereits wieder ausgefedert
# Erst ein gutes Stück nach der Kante ist die Federgabel komplett ausgefedert - Dank Dämpfung wird sie jetzt ohne weitere Schwingungen wieder im Sag ankommen.

Ganz praktisch lässt sich diese unglückliche Verteilung der Massen an einem modernen Fahrrad sehen, wenn man es mal ohne Fahrer mit Unebenheiten konfrontiert. Anstatt dass die Federgabel dem Stoß vom Reifen nachgibt, weicht einfach das ganze Fahrrad aus. Kein Wunder, der leichte Rahmen (mit dem leichten Cockpit und der leichten Gabelkrone und so weiter) hat der Federkraft gar nicht genügend Trägheit entgegenzusetzen, als dass die Federgabel sich überhaupt in Bewegung versetzen würde. Dass das Fahrwerk generell dennoch einen guten Job macht, hat natürlich einen gewichtigen Grund: Den Fleischklops namens Fahrer obendrauf! Der schiebt das Verhältnis von gefederter zu ungefederter nämlich deutlich zu Gunsten der gefederten, in meinem Fall so ziemlich genau auf 11 zu 1. Nur diese Tatsache ermöglicht es, dass die Räder auf und ab tanzen, während ich scheinbar unberührt darüber hinweg gleite, ein wenig wie ein Citroen in den alten Hydropneumatik-Werbungen.

Einen wichtigen Unterschied gibt es aber: Fahrer und gefederter Teil des Fahrrades sind nicht starr miteinander verbunden, sondern eben durch Arme und Beine. Die gute Nachricht: das macht den Fahrer zu einem aktiven Fahrwerk, mit Niveauregulierung und allem Pipapo. Die schlechte Nachricht: Der gefederte Teil des Fahrrades wird durch Schläge eben ganz schön in Bewegung versetzt, und muss vom Fahrer festgehalten werden – das Ergebnis nennen wir dann: anstrengend.

Wer spätestens seit der Erwähnung von Hr. Newton glaubt, das sei alles blanke Theorie, dem empfehle ich die Probefahrt a) eines E-Bikes (ieeehh!) oder b) eines Getriebebikes. Beide weisen deutlich bessere Massenverteilungen auf (bei einem E-bike lässt sich fast ein Verhältnis von 2 : 1 erreichen, Getriebebikes gehen ebenfalls in die richtige Richtung), die sich direkt in einer besseren Fahrwerksperformance beziehungsweise reduzierten Kräften auf Lenker und Pedale erfahren lässt. Der Fahrer oder die Fahrerin kann entspannter obenauf sitzen und sich eher aufs Lenken als auf das Festhalten der Lenkstange konzentrieren. Wer’s nicht glaubt: Probefahren. Um der Argumentation noch ein wenig Fundament zu verleihen: Im Downhill klebt sich manch einer gar Blei an den Rahmen, um das Rad ruhiger liegen zu lassen…

Video

In diesem Video fährt ein Fahrrad eine Bordsteinkante hoch. Klingt unspektakulär, aber die Slow-Motion macht so manches sichtbar.

Wer genau zuschaut, sieht, dass der Reifen viel schneller einfedert und bereits wieder ausgefedert ist, wenn die Federgabel komplett eingefedert hat. Man könnte überspitzt formulieren: Der Reifen schießt die Federgabel in den Federweg! Eine Zeit lang wirken Reifen-Rückfederkräfte und Hindernis tatsächlich gemeinsam auf die Gabel ein, mehr Reifen-Dämpfung (ein langsameres Rückfedern) könnte einen solchen einzelnen Schlag deutlich mindern. Andererseits steht der Reifen dank der schnellen Rückfederung auch gleich für das nächste Hindernis bereit – bei der Federgabel dauert es länger. Begründet wird all das einerseits durch die hydraulische Dämpfung in der Gabel, andererseits eben ganz maßgeblich durch die höhere Masse von Rad und Gabel-Casting.

Fazit

Bedingt durch die immer größer werdenden Räder und wachsende Kassetten verschiebt sich also das Massenverhältnis zu Gunsten der ungeliebten ungefederten Massen, was das Rad weniger satt liegen lässt. Hoffnung machen in dieser Hinsicht eigentlich nur Getriebebikes und Leichtbau am Laufrad, aber ihr wisst ja: Wann immer etwas leichter wird, kommt die nächste gute Idee um die Ecke, die wieder auf die Waage drückt: Schaum-Insert im Reifen, anyone? Übrigens: Wer mehr Volumen im Reifen wünscht, erreicht das in Summe leichter durch eine breitere Felge als durch einen breiteren Reifen. Und mehr Volumen sorgt ja auch wieder für mehr Federung im Reifen, die die geringste ungefederte Masse von allen hat.

Wer bei der nächsten Anschaffung also vor der Wahl steht: Rein funktional lieber in leichtere Räder als einen leichten Carbonrahmen investieren – oder gleich zum Getriebebike greifen. Oder wie seht ihr das?

Die mobile Version verlassen