Der Homeground
Ein Schritt nach draußen und die Hitze des Asphalts schießt durch die Flip Flop-Sohlen, windet sich um die Knöchel, zieht die Waden empor und trifft irgendwo auf Bauchnabelhöhe auf die Hitze, die sich von oben durch die Schädeldecke gebahnt hat. Circa 20 Sekunden und alle Poren sind offen für freien Schweißfluss. Die 40 °C sind geknackt, gefühlt sind es gut 10 °C mehr.
Willkommen in der Wüste Arizonas. Willkommen in Phoenix. Willkommen in Phoenix im Juni, dem heißesten Monat für die Stadt. Gut, dass unser Outdoor-Tag für heute schon vorbei ist. (Es ist 10.30 Uhr). Jetzt können wir in Ruhe die kühlen Pivot Headquarters begutachten. Mit Gründer und Chef Chris Cocalis sind wir heute um 5.15 Uhr am South Mountain Park in den Tag gestartet. Wie man es in Phoenix in den Sommermonaten eben so macht …

Bike in Phoenix
So etwas wie den South Mountain Park wünscht man jeder Stadt. Mit seinen 65 Quadratkilometer einer der größten Stadtparks der Staaten und mit seinen über 80 Kilometer an Trails einer der größten städtischen Bike-Gebiete.
Bei Tempe (und somit ums Eck von Pivot gelegen) erhebt sich der Bergrücken mit einem Traum-Areal an Wegen, für alles, was raus will. Es ist Wüstengelände mit Kakteen und Sand und viel, sehr viel Stein. Der Parkplatz ist jetzt schon gut gefüllt. Gassigeher und Trail Runner (in knappen Shorts und oben ohne, bis auf den Pulsgurt) sind unterwegs. Fleißig werden Bikes von Trucks geladen – wenn wir knapp 3 Stunden später zurückkommen, wird der Parkplatz so gut wie leer sein. Der Pre-Work / Pre-Heat Ride ist um 7-8 Uhr abgeschlossen.


Woran erkennt man die Bike Locals? An der Wasserflasche. Beziehungsweise am Geräusch des Inhalts. „Hast du Eis im Wasser, Chris?“ Er grinst. Natürlich hat er. Eis in der Flasche und die Flasche vorher nochmal ins Gefrierfach. Tipps von dem Mann, der die Strecken hier seit Jahrzehnten mehr oder weniger täglich fährt, der mit Pivot Pate des längsten Trails, des 12 Meilen langen Nationals ist (das Pivot Team pflegt ihn auch). Und von dem Mann, der in Jugendjahren als BMX-Profi begann und seit Jahrzehnten einer der Tüftler, Tester und Innovatoren der Branche ist.


Wenn man mit Chris Cocalis biken geht, sollte man wach sein. Auch wenn gerade erst die Sonne aufgeht. Wer mit Chris Cocalis biken geht, lernt viel. Über das Bike und über das Biken. Was man auch sehr schnell lernt: Dass man nicht blind seiner Linie folgen sollte. Außer natürlich, man wäre ein Uphill-Akrobat. Chris fährt sensationell. Steile Anstiege mit kniehohen Steinen – ein Lupfer, ein Tritt, Chris pedaliert drüber. Verrückt …

In Phoenix geht es nicht auf Forstwegen bergan, hier nimmt man anspruchsvolle Singletracks und freut sich über hart erkämpfte 100 Höhenmeter. Es ist rockig, sandig, steil, fordernd – so wie es Chris mag. Wir schwitzen. Und schauen. Phoenix rundum scheint riesig. Es ist die fünfgrößte Stadt der USA. Chris zeigt in alle Richtungen: Neben dem South Mountain gibt es u.a. das flowigere Hawes Trail Network in Mesa oder den McDowell Mountain Regional Park in Fountain Hills.
Es würde keinen Sinn ergeben, einen Hausbesuch bei Pivot zu machen, ohne die Home-Trails zu fahren. Das raue Gelände, die fordernden Uphills, der schnelle Wechsel – all die Anforderungen legen im wahrsten Sinn des Wortes den Grundstein der Bikes. Leicht müssen sie sein, extrem robust, präzise im Handling, top Traktion. Unter der Woche kann man Demo-Bikes buchen und sie auf die Trails entführen.

Die Historie
Aus Chicago stammt Chris Cocalis ursprünglich. Einem Ort, wo man nicht 12 Monate im Jahr auf dem Sattel sitzen kann wie in Phoenix. So kam Chris 1987 mit der BMX Pro-License nach Arizona. Er ging zur Uni und arbeitete nebenher in einem Shop. „Und hier in Phoenix ging es nicht um BMX, es ging um Mountainbikes. Ich bin sofort umgestiegen.“ Zwei Jahre fuhr er noch Rennen, doch nebenher begann er schon mit der Entwicklung von Komponenten, die er an Bike Shops verkaufte. Als einer von ihnen sie unter seinem Namen vermarktete, machte Chris seine ersten Business-Erfahrungen und meldete Patente an.
1991 dann gründete er die Marke Titus, baute Titanrahmen und darum vollgefederte Bikes (dass es auf dem deutschen Markt schon einen anderen Titus gibt, der auf vier Rollen unterwegs ist, bemerkte Chris erst später. So wurde die Verwendung des Namens für das deutsche Unternehmen in den USA durch Chris untersagt. Titus Dittmann revanchierte sich und untersagte dafür dem US-Unternehmen, den Namen in Deutschland zu nutzen). 2001 stiegen Vyatek Sports als Mit-Eigentümer ein und Chris hatte für seine Rolle im Unternehmen eine 5 Jahres-Vereinbarung. Als die 2006 auslief, konnten sich die Parteien nicht einigen. Chris stieg aus. Und war am Boden zerstört. Er tüftelte weiter und zog es zeitweise sogar in Betracht, eine Firma für Motocross Parts zu übernehmen.


Aber wie das so ist, wenn man am Boden liegt und da einfach nicht hingehört: Man steht auf und klopft den Staub ab. Und wenn man Chris Cocalis ist und mit Bill Kibler und Kevin Tisue zwei langjährige Wegbegleiter und Unterstützer an seiner Seite weiß, dann breitet man seine Flügel aus und steigt auf wie Phoenix aus der Asche. 2007 gründet Chris Pivot. Wobei der Name noch nicht existierte, als die Rahmen schon in Produktion waren. „Das Produkt stand, aber es war noch namenslos. Ein Freund kam schließlich auf Pivot. Kurz darauf rief er nochmal an und meinte: Vergiss es, das ist ein mieser Name. Ich meinte nur: Nein, der ist richtig gut.“

Chris wollte hervorheben, dass das Unternehmen aus Phoenix stammt, und ließ seinen Künstler das inzwischen ikonische Pivot Phoenix-Vogellogo entwerfen.


Von Anfang an setzt Chris auf den Federungsspezialisten Dave Weagle, dessen DW-Links damals noch eine neue Sache waren. Bis heute arbeiten Chris und Dave eng zusammen und Pivot Bikes sind bekannt für ihre patentierten DW-Link Lösungen am Hinterbau.
Es läuft gut für Pivot. Es ist tatsächlich ein Phoenix aus der Asche entstiegen, dessen Flügel noch immer kräftig wachsen. Zum Start der Pandemie Anfang 2020 stand der Umzug in die aktuellen Headquarters an. „Direkt nach dem Switchblade-Launch im Februar. Das war eine extreme Zeit: Händler riefen an und stornierten Bestellungen, wir bezahlten doppelt Miete, während wir die meisten Leute nach Hause schicken mussten.“ Heute, im Sommer 2022, sieht das wieder anders aus: „Wir platzen schon wieder aus allen Nähten“, sagt Chris. „Vor allem auch wegen unserer In-House Montage.“


Die Vibes
Luke vom Marketing-Team shuttelt uns vom Hotel zu den Pivot Headquarters in Tempe/Phoenix. Kurz bevor wir in die Straße einbiegen, warnt er uns Europäer einfühlsam vor. „I have to warn you guys… Bitte nicht erschrecken, aber nebenan steht in der Einfahrt ein Typ mit Maschinengewehr.“ Wie das so ist, wenn man Crypto-Miner als Nachbarn hat. (Und nein, wir haben nicht einmal aus der Hüfte Fotos geschossen.)


Pivot hat es sich fein eingerichtet in dem recht frischen Zuhause. Seit zwei Jahren sind sie nun hier. „Im alten Büro haben wir in der Früh die Paletten rausgefahren, um Platz zum Arbeiten zu haben. Abends kamen sie wieder rein. Die Eismaschine war schnell leer, das Wasser schnell aus, vor den Klos gab es Schlangen.“ Jetzt gibt es eine Küche mit American-sized Kühlschränken und einer regentonnengroßen Eismaschine. Außerdem vier große Duschen für all die Commuter. Und 8$ Dollar Belohnung pro Tag on top, wenn man mit dem Fahrrad kommt. Viele der Pivoteers wohnen um die South Mountain Range und der ein oder andere nimmt auf der Commuter-Fahrt die Trails zur Arbeit… Im Winter, wenn die Tage kürzer sind, gibt es für alle Flex Days, damit man sich die Arbeitszeit so einteilen kann, dass man noch auf die Trails kommt.

Die Entwicklung
Trotz rund 100 Mitarbeiter (von Marketing bis Montage) ist Chef Chris Cocalis noch immer Dreh- und Angelpunkt (oder eben der Pivot) der Marke. Er denkt sich das Produkt aus, er definiert es, diskutiert es mit Kevin Tisue, seinem Director of Engineering und mit Bill Kibler, Production & QC Manager (zu ihm und seinem verrückten Maschinenreich kommen wir noch…) und dann mit seinen Teams.
Er sei offen für Input, sagt Chris, spricht auch viel mit dem Handel und Athleten (gerade wenn es um Produkte wie das Gravel Bike geht), lauscht, was die Leute auf den Trails erzählen – aber im Grunde weiß er schon sehr genau, was er will. „Jeder hat gesagt, dass wir verrückt sind, mit einem 27.5“-Trail Bike zu kommen, als wir das Shadowcat präsentiert haben. Die Welt will Mullets und 29er, hieß es. Wir haben es durchgezogen und was wollten die Leute bei den Demos viel fahren? Das 27.5“-Shadowcat!“.
Apropos Demos: Wer mal in Phoenix sein sollte, kann sich direkt bei Pivot (nach Anmeldung) ein Bike für Test Rides holen. Das perfekte Testgelände hat man mit dem South Mountain Park vor der Nase. Es wird fleißig geprüft, poliert, montiert, montiert und montiert. Ken arbeitet seit 14 Jahren für Pivot. Er ist für die Final Assembly zuständig. An Besttagen können 100 Bikes aus dem Lager rausgehen, im Schnitt sind es 30-40. Auch in Europa werden die Bikes für die Händler fertig vormontiert.
Montage & Tüfteleien
Nach den R&D- und Marketing-Teams führt uns Chris weiter in die Montage-Hallen. Beim Quality Check sitzt ein junger Herr, der wie ein Kunststudent aussieht und recht verliebt einen Rahmen poliert. Eine Checkliste mit 28 Punkten arbeitet er ab, bringt den Rahmen auf Hochglanz und setzt ab und an die Airbrush-Pistole an. Dann folgen die First Assembly Line, die E-Bike Assembly Line und die Final Assembly Line.



Schließlich steht noch der Besuch bei Bill aus. Der war ein junger, bike-verrückter Maschinenbauer, als Chris in 1992 kennenlernte. Er baute damals Titus-Prototypen nach Feierabend in einer CNC-Werkstatt für Luft- und Raumfahrt. Das Gleiche macht er heute noch – nur eben in seinem Reich bei Pivot, wo neben zwei CNC-Maschinen auch zwei 3D-Printer stehen – Marke Eigenbau. Das große Modell hat Bill dann gleich noch mal für die Kunstfakultät der University of Arizona gebaut…


Hier also wird getüftelt, gedruckt, gefräst. Hier entstehen die Prototypen und neue Lösungen – vom Seat Post bis zum Carbon-Herstellungsverfahren. Carbon ist das Markenzeichen von Pivot. Das Fertigungsverfahren ist komplex und im Gegensatz zu so ziemlich allen Mitbewerbern gibt es bei Pivot keine preisgünstige Variante: Bei der Ausstattung kann man wählen, aber alle Bikes kommen mit Top-Carbon-Rahmen. Und der wird aufwändig hergestellt: Die akkurate Ausrichtung der Carbon-Schichten an den individuellen Stellen ist präzise Handarbeit.
Und Pivot setzt auf Foam Core Molding, einen Prozess, der von den wenigsten Marken angewandt wird, aber verhindert, dass sich Falten oder Hohlräume bilden. Unter Hitze dehnt sich im Rahmen ein Schaumstoff aus, der von innen den Druck für die Form gibt – bis in die kleinsten Ecken und Rundungen. Aktuell experimentiert Chris mit einem neuen, nachhaltigeren Material, das sich wie Schaumstoff unter Hitze aufbläst, allerdings wasserlöslich ist.
Es sind beeindruckende Tage, die wir bei Pivot in Phoenix verbringen durften – mit einem furchtbar netten Team und superspannenden Einblicken.


Übrigens werden auch in Europa die Bikes von Pivot selbst montiert. Wer eins ausprobieren möchte, findet auf der Webseite eine Auslistung an Events und Händlern.
Wie hat euch unser Hausbesuch bei Pivot in Phoenix gefallen?
80 Kommentare
» Alle Kommentare im ForumEs gibt eigtl nur einen Grund warum Pivot keine Framekits mehr anbietet, man würde sonst merken wie absurd die aufgerufenen Preise für die Ausstattung sind. Firma an sich ist aber lässig. Die Preise hier in DE sind aktuell auch etwas unserer super Währung zu verdanken. Die US Schmieden sind deshalb komplett uninteressant in DE. Da passt das Verhältnis Leistung und Preis gar nicht mehr.
Im Freundeskreis fahren noch 2 Pivot Topmodelle rum, als Jahresbike für 3500€ gekauft, selbst die Besitzer halten die Neupreise für "bescheuert" und meinen selbst "man muss nen Vogel haben um so etwas neu zu kaufen".
Ich könnte mir vorstellen dass die Kundschaft, die unbedingt selbstaufbauen will, prozentual gering(er) ist, das rechnet sich schlicht für einen kleinen Hersteller nicht.
Vermutlich bist in der Gehaltsklasse, die ein Großteil der Kunden ausmacht, vermutlich eh froh überhaupt noch aufs Rad zu kommen.
Da hat "man" sicherlich keine Lust noch ewig die Shops abzuklappern zu bestellen, die Falschlieferungen wieder zurückzuschicken und dann noch stundenlang in der Werkstatt zu stehen zum montieren.
Da wird das Rad gekauft und wenn was ist wird es der Werkstatt hingestellt und "Kollege kümmere dich drum" gesagt. Kann man auch als eine Form von Lebensqualität definieren.
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