Es tut sich etwas in Deutschland! Seit vielen Jahren erfreuen sich Bikes von deutschen Firmen großer Beliebtheit – doch gerade in der näheren Vergangenheit haben einige kleine deutsche Bike-Schmieden mit innovativen Ansätzen das Feld gehörig aufgewirbelt. In unserer Artikel-Serie „Neue Deutsche Welle“ werden wir in den kommenden Monaten einige Vertreter von kleinen, spannenden Firmen aus Deutschland testen und die Hintergründe der Bikes näher beleuchten.
Das erste Serien-Mountainbike der Geschichte stammt aus den USA, die Wurzeln des Freeridens liegen in Kanada. Doch hinter diesen beiden Ländern, die die Entwicklung moderner Mountainbikes wohl am stärksten geprägt haben, brauchen sich die Produkte deutscher Firmen keineswegs zu verstecken. Nicht zu Unrecht gilt das Prädikat Made in Germany als Qualitätssiegel allererster Güte. Bike-Schmieden wie Nicolai, die sich genau dies auf die Fahnen geschrieben haben, erfreuen sich national wie international extrem großer Beliebtheit.
Dazu haben sich Firmen wie Canyon oder YT Industries dank innovativer Verkaufsstrategien im vergangenen Jahrzehnt extrem weiterentwickelt – Koblenz und Forchheim sind mittlerweile Ortschaften, die zumindest in der Mountainbike-Branche guten Gewissens in einem Atemzug mit Vancouver, Morgan Hill, Waterloo oder Santa Cruz genannt werden können. Cube aus dem beschaulichen Waldershof – gelegen in der Oberpfalz, immerhin gut 4.000 Einwohner – ist einer der größten Fahrrad-Hersteller der Welt. Propain aus dem baden-württembergischen Vogt ist in den vergangenen Jahren rasant gewachsen, Rose aus Bocholt eilt von Rekord zu Rekord … diese Liste der erfolgreichen deutschen Mountainbike-Firmen lässt sich nahezu beliebig fortsetzen.
Neue Deutsche Welle: Es tut sich was in Deutschland!
Gerade in den vergangenen Jahren hat sich in Deutschland auch abseits dieser etablierten Branchenriesen etwas getan. Wobei: Das Wörtchen „etwas“ ist hier definitiv eine Untertreibung. Gefühlt im Wochentakt gibt es Meldungen über neue Bikes, innovative Komponenten und spannende Prototyp-Produkte aus Deutschland – und dazu passend Diskussionen in unserem Forum, bei dem die Zahl der Kommentare innerhalb kürzester Zeit in den dreistelligen Bereich schießt.
Beispiele gefällig? Aus seinem WG-Zimmer im beschaulichen Freiburg entwickelt Cornelius Kapfinger von Intend BC Suspension-Produkte und Komponenten, die mittlerweile an keinem Dream Build mehr fehlen dürfen. Mit innovativen Upside Down-Federgabeln, federleichten Vorbauten und zahlreichen cleveren Lösungen hat Intend mittlerweile einen enormen Bekanntheitsgrad – nicht nur in Deutschland. Nur wenige Kilometer weiter südlich befindet sich der Firmensitz von Trickstuff. Die edlen Bremsen sind so ziemlich das Beste, was ein Fahrrad derzeit zum Stoppen bringt.
Aus Dresden stammt mit Beast Components ein Komponenten-Hersteller, der federleichte Carbon-Produkte für Rennräder und Mountainbikes anbietet. In eine ähnliche Richtung geht All Ahead Composites aus der Nähe von Würzburg – dazu später noch mehr. Mit Vecnum und Bike Yoke stammen gleich zwei der wohl besten Variostützen-Hersteller aus heimischen Gefilden. Newmen hat sich innerhalb weniger Jahre zu einem der angesehensten Hersteller von Cockpits und Laufrädern entwickelt. Und was Ergonomie angeht, spielen Ergon aus Koblenz und SQlab aus der Nähe von München in der Champions League.
6 innovative Bikes aus Deutschland: Das sind die Kandidaten
In unserer Artikel-Reihe „Neue Deutsche Welle“ soll es aber nicht um Komponenten- und Zubehör-Hersteller gehen – wenngleich man deren Produkte sicherlich auch am einen oder anderen Bike sehen wird. Stattdessen wollen wir uns auf innovative Fahrräder konzentrieren, die es bislang nur in extrem limitierter Auflage oder als Kleinserie gibt – und die von kleinen, deutschen Unternehmen stammen, größtenteils sogar Made in Germany sind.
Der erste Impuls für unsere Artikel-Serie liegt mittlerweile knapp 2 Jahre zurück: Im Rahmen der Craft Bike Days 2019 haben wir gemeinsam mit DT Swiss kleine, deutschsprachige Hersteller von Bikes und Komponenten eingeladen, um über allerlei Fahrrad-Themen zu fachsimpeln – und natürlich die neusten Schätzchen zu begutachten. Schnell wurde klar: Auch abseits der kleinen, etablierten Firmen aus Deutschland gibt es einige spannende Projekte, die man dringend unter die Lupe nehmen muss.
Kavenz VHP 16: High-Pivot-Viergelenker mit langer Entwicklungsgeschichte
„Wir entwickeln einen Fahrradrahmen“: Mit dieser Artikel-Serie hat uns Giacomo Großehagenbrock seit 2018 immer wieder extrem interessante Einblicke in die Entstehungsgeschichte eines Mountainbike-Rahmens gegeben. Detailliert wurden alle Meilensteine, aber auch Rückschläge in Text- und Videoform beschrieben – bis am Ende das Kavenz VHP 16 auf den Beinen stand. Selbst ohne diese Entwicklungsgeschichte wäre der High-Pivot-Viergelenker mitsamt Kettenumlenkung eines der interessantesten Enduro-Bikes überhaupt.
Der Fokus bei der Entwicklung des Kavenz VHP 16 wurde vor allem auf die perfekte Kinematik des High-Pivot-Hinterbaus gelegt. Solche Hinterbau-Konzepte mit hohem Drehpunkt liegen aktuell voll im Enduro-Trend – oft aber in Kombination mit einem relativ simplen Eingelenker-Hinterbau. Kavenz geht noch einen Schritt weiter und versieht das VHP 16 mit einem Viergelenk-System. Auch hinsichtlich Geometrie und Konfigurations-Möglichkeiten ist das Kavenz VHP 16 ein echter Kracher. Abgerundet wird unser Testbike mit feiner italienischer Federungs-Expertise aus dem Hause EXT, in Kanada laminierten We Are One Composites-Laufrädern aus Carbon und natürlich einigen hauseigenen Komponenten von 77designz.
- Einsatzgebiet Enduro
- Rahmenmaterial Aluminium
- Federweg 170 mm / 160 mm
- Besonderheiten High-Pivot-Viergelenker-Hinterbau, Custom-Geometrie, Aufbau mit 27,5″-Hinterrad möglich
- www.kavenz.com
Actofive P-Train: Ach du meine Fräse!
Nicht minder spannend geht es bei Actofive zur Sache. Unter diesem Firmen-Namen stellt Simon Metzner in Dresden eines der innovativsten Trailbikes überhaupt her. Eine der zahlreichen Besonderheiten: Der wirklich wunderschöne Rahmen des Trailbikes wird aus riesigen Aluminium-Blöcken gefräst! Aus ungefähr 40 Kilogramm Rohmaterial erschafft eine Portalfräse zwei Rahmenhälften, die anschließend miteinander verklebt werden. Auch der Hinterbau ist gefräst.
Damit nicht genug: Am Heck setzt Actofive beim P-Train auf ein High Pivot-System mit Kettenumlenkung. Dank Flip Chip kann man den Federweg anpassen. Neben einem 29″-Setup ist so auch eine Mullet-Konfiguration möglich. Und weil uns das Actofive P-Train während unseres ersten sehr kurzen Tests durchaus begeistern konnte, haben wir das spannende Trailbike kurzerhand für einen ausgiebigen Test bestellt!
- Einsatzgebiet Trail
- Rahmenmaterial Aluminium
- Federweg 140-160 mm/135-145 mm
- Besonderheiten aus Aluminium-Blöcken gefräster Rahmen, anpassbare Geometrie, variabler Federweg, Mullet-Konfiguration möglich, High Pivot-Hinterbau mit Kettenumlenkung
- www.actofive.com
Last Tarvo: Die Leichtigkeit des Seins
Im Vergleich zu den anderen in der Artikel-Serie vertretenen Firmen ist Last definitiv der alte Hase. Doch die kleine Firma aus dem Ruhrgebiet hat sich 2020 mit dem Tarvo sozusagen neu erfunden. Erstmals in der Firmengeschichte hat Last nämlich ein Carbon-Bike auf den Markt gebracht – und was für eins! Das pfeilschnelle Enduro ist nicht nur unverschämt leicht, sondern dazu auch noch unfassbar schön.
Dazu arbeitet Last mit All Ahead Composites zusammen – jeder Tarvo-Rahmen wird also per Hand in Bayern laminiert. Die optionale Lackierung des Enduro-Fullies findet ebenfalls praktisch direkt vor der Haustür statt: Lars Diedenhofen von 70ID ist dafür zuständig. Mittlerweile bietet Last zusätzlich zur Enduro-Rakete mit dem neuen Cinto ein nicht minder schönes Trail-Fully an. Für unsere Artikel-Serie hat uns Last ein edles Tarvo mit Newmen-Laufrädern, SRAM AXS-Schaltung, Fox Factory-Fahrwerk, Vecnum Nivo-Sattelstütze, Intend-Vorbau und Bike Ahead Composites-Lenker zugeschickt. Lecker!
- Einsatzgebiet Enduro
- Rahmenmaterial Carbon
- Federweg 170 mm / 160 mm
- Besonderheiten erster Carbon-Rahmen in der Last-Firmengeschichte, Made in Germany, Stauraum im Unterrohr, Custom-Lackierung möglich, einteiliger Flexpivot-Hinterbau ohne Lager
- www.last-bikes.com
Müsing Specter: Individualität für die XC-Rennstrecke
„Build Your Dream“: Ob bei der Kundenbetreuung, der Wahl der perfekten Komponenten oder bei der Farbgestaltung der Räder, die Marke Müsing steht wie kaum eine andere Firma hierzulande für das Konzept der Individualisierung von Fahrrädern. Ob Rennrad, Gravel-, XC- oder Trailbike: im Portfolio der Bikeschmiede aus dem Westerwald dürfte wohl so ziemlich jeder Radsportfan das passende Sportgerät finden – und das zumeist zu fairen Preisen. Dabei wird jedes einzelne Müsing-Rad in Deutschland entwickelt und schließlich von Hand beschichtet und montiert.
Insbesondere in der hierzulande sehr ausgeprägten Marathon-Szene haben sich die Modelle von Müsing in den vergangenen Jahren fest in den Startblöcken der Breitensport-Events etabliert – allen voran das Carbon-Hardtail Müsing Specter, das mit 100 Millimeter Federweg und einer durchaus fortschrittlichen Geometrie nicht nur auf der Rennstrecke Freude bereiten soll. Zudem erhielt das Rad Aufmerksamkeit im Rahmen des MCi-Konzepts von Magura, das mit einem maximal aufgeräumten Cockpit erst kürzlich von euch im Rahmen der MTB-News User Awards 2021 als innovativstes Produkt des Jahres ausgezeichnet wurde.
- Einsatzgebiet Cross-Country / Marathon
- Rahmenmaterial Carbon
- Federweg 100 mm
- Besonderheiten individuelle Konfiguration der Komponenten & Farbe
- www.muesing-bikes.com
Huhn Cycles 129 Ti: Innovation aus dem 3D-Drucker
Bereits vor 8.000 Jahren wurden Hühner erfolgreich domestiziert – doch das ungewöhnlichste Huhn der Menschheitsgeschichte ist weitaus jünger. Mit dem Huhn 129 hat Huhn Cycles vor gut einem Jahr ein Bike präsentiert, das durch seine Schönheit und die außergewöhnliche Produktionsweise sofort ins Auge sticht. Der Industrie-Designer Ralf Holleis hat einen Rahmen entwickelt, bei dem Stahl- oder optional auch Titan-Rohre mit 3D-gedruckten Muffen verschweißt werden. Gefertigt werden die Rahmen in einer Werkstatt, die früher übrigens ein Hühnerstall war.
Beim Huhn Cycles 129 handelt es sich um ein mehr als außergewöhnliches Trailbike, das auf 29″-Laufrädern rollt und 140 mm Federweg vorne mit 129 mm am Heck kombiniert. Bislang sind beispielsweise im Rahmen der European Bike Challenge vornehmlich Bilder des Moorhuhns mit Stahl-Rohren durchs Internet geschwirrt. Für unser Deutschland-Spezial schickt Ralf Holleis allerdings einen ganz besonderen Leckerbissen ins Rennen: Unser Testbike ist nicht nur mit einem feinen EXT-Fahrwerk aus Italien bestückt, sondern setzt dazu auch auf einen extrem edlen Titan-Rahmen!
- Einsatzgebiet Trail
- Rahmenmaterial Stahl oder Titan
- Federweg 140 mm / 129 mm
- Besonderheiten extrem limitiert, optional mit Titan-Rohren erhältlich, 3D-gedruckte Muffen mit verschweißten Rohren, Custom-Rahmengrößen möglich
- www.huhncycles.com
Crossworx Dash 29: Enduro-Rakete aus dem grünen Herzen Deutschlands
2018 hat Crossworx mit einem vergleichsweise unspektakulären Hardtail angefangen, doch spätestens mit der Vorstellung des Dash hat die kleine Firma aus Thüringen zwei Jahre später für Furore gesorgt. Der Aluminium-Rahmen verfügt nicht nur über ein ziemlich ungewöhnliches Hinterbau-System, bei dem der Dämpfer extrem tief knapp oberhalb des Tretlagers positioniert ist, sondern wird dazu handgeschweißt in Rudolstadt.
Nachdem das Dash zunächst nur als 27,5″-Variante erhältlich war, gibt es nun auch eine 29″-Ausführung, die noch eine Spur schneller sein dürfte – und damit prädestiniert für die härtesten Enduro-Strecken ist. Die Newmen-Laufräder und Magura-Bremsen an unserem Testbike führen das Deutschland-Thema fort. Komplettiert wird der schicke Aufbau mit einem Fox Factory-Fahrwerk und einem Shimano-Antrieb.
- Einsatzgebiet Enduro
- Rahmenmaterial Aluminium
- Federweg 160 mm / 155 mm
- Besonderheiten handgeschweißt in Thüringen, tiefer Schwerpunkt durch Umlenkung unter dem Dämpfer, Custom-Lackierung möglich
- www.crossworx-cycles.com
Ich habe ein Bike in meiner Garage zusammengebrutzelt – das müsst ihr euch anschauen!
Spannende Eigenbau-Kreationen sind in den vergangenen Jahren und Monaten immer populärer geworden. Um einen Rahmen zu bauen, braucht man nicht unbedingt sündhaft teure Carbon-Molds oder Portal-Fräsen. Ein ausgeprägter Innovationsgeist ist allerdings unerlässlich. Wenn du also selbst ein spannendes Bike gebaut hast oder der kleine Bruder des Cousins deiner Friseurin jemandem auf TikTok folgt, der ein richtig krasses Eigenbau-Projekt vorantreibt, dann tritt mit uns in Kontakt – möglicherweise gibt es dann noch ein kleines Eigenbau-Spezial in unserer Artikel-Serie.
Wie geht es weiter?
Ein Blick auf die Eckdaten der Bikes lässt schnell erahnen: Die Bikes unmittelbar gegeneinander zu fahren und miteinander zu vergleichen, macht bei diesem Testfeld keinen Sinn. Deshalb verzichten wir in der Artikel-Serie auf das gewohnte Format unserer klassischen Vergleichstests.
Stattdessen werden wir in der Artikel-Serie „Neue Deutsche Welle“ in den kommenden Wochen und Monaten jedes Bike individuell testen – gewohnt umfangreich, dazu noch mit einem speziellen Fokus auf die Hintergründe und Herstellungsgeschichte des jeweiligen Modells. In einem zusammenfassenden Abschluss-Artikel werden wir am Ende zudem noch die Stärken und Besonderheiten aller Kandidaten näher beleuchten. Vorhang auf für die Neue Deutsche Welle auf MTB-News – wir wünschen viel Spaß!
Hier findest du alle weiteren Artikel der Neuen Deutschen Welle:
- Müsing Specter im Test: Individuell und schnell?
- Actofive P-Train CNC im Test: P-Zug? D-Zug!
- Crossworx Dash290 Enduro-Bike im Test: Reinhalten wie ein Tankwart
- Last Tarvo im Test: Schlicht und ergreifend
- Kavenz VHP16 im Test: Nicht nur virtuell richtig schnell!
- Neue Deutsche Welle: 6 innovative Bikes aus Deutschland im Test
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