Vorab
(Noch eine Information zur Diskussion: Soweit es geht, werde ich wie immer versuchen, auf alle Fragen und Kommentare einzugehen.)
Das Projekt nahm wortwörtlich Gestalt an. Zielsetzung dafür: Ein Bike, das eine moderne Geometrie und Setup besitzt und mit dem man eine Menge Spaß in einem sehr breiten Spektrum haben kann. In dieser achtteiligen Artikelserie werde ich meine Untersuchungen, die Realisierung des Prototypen und den Fahreindruck schildern. Holt euch schonmal einen Kaffee und macht es euch bequem, denn das wird in Summe etwas länger dauern!
Mit den oben beschriebenen Überlegungen war und bin ich natürlich nicht alleine. Auch andere arbeiteten parallel an Ideen für modernere Mountainbikes: Mondraker, Nicolai/Mojo und Pole, um nur einige zu nennen. Manche Ideen dieser Firmen gingen in andere Richtungen und manche Teile überschnitten sich mit meinen und wurden sogar zwischenzeitlich schon recht ähnlich am Markt angeboten. Ärgerlich? Eher eine Bestätigung, dass ich an etwas arbeitete, das so falsch nicht sein kann.
Den großen Vorteil, den ich dabei hatte, war, dass ich kein Bikehersteller bin und somit nichts verkaufen muss. Wirtschaftlichen Druck hatte ich somit schon mal keinen und konnte mir (fast) alle Zeit der Welt nehmen, um jeden Parameter genauestens zu untersuchen, mit unterschiedlichsten Fahrern zu testen, zu messen und zu vergleichen.
Ganz nach dem Grundsatz „wer nichts weiß, muss alles glauben“ ging ich bei der Wahl der Geometrie bewusst über die Grenzen dessen hinweg, was am Markt als richtig oder verspielt eingestuft wird.
Ganz nach dem Grundsatz „wer nichts weiß, muss alles glauben“ ging ich bei der Wahl der Geometrie bewusst über die Grenzen dessen hinweg, was am Markt als richtig oder verspielt eingestuft wird. Damit öffnete ich die Büchse der Pandora und jede Antwort, die ich auf meinem Weg fand, enthielt weitere Fragen, zu scheinbar gesetzten Normen und Zusammenhängen, zwischen einzelnen Parametern, die es zu untersuchen und zu verstehen galt. Am Ende stand ich vor einem Berg an Erkenntnissen, die mir einen völlig neuen Zugang zu Mountainbikes eröffnet haben.
In dieser achtteiligen Artikelserie möchte ich einen Einblick in meine Arbeit geben. Sie ist in folgende Teile gegliedert:
1. Meine Bike-Vorgeschichte der letzten 21 Jahre und eine Analyse bestehender Geometrien (dieser Artikel)
2. Warum sind Rahmengrößen, wie sie sind und wie beeinflusst die Körpergröße das Fahrverhalten?
3. Glaubensfrage: Kettenstrebenlänge
4. Vorbaulängen und die Abhängigkeit beim Fahrverhalten
5. Sitzwinkel, Sitzrohrlänge
6. Federweg und Lenkwinkel
7. Eigenschaften meines Prototyps
8. Fahreindruck
Die Idee
Grundsätzlich lässt sich zu Beginn sagen: Ein Fahrrad ist ein sehr komplexes System mit sich gegenseitig beeinflussenden Parametern, welches bergauf und bergab bewegt wird. Gleichzeitig wirkt eine sehr große Masse von oben auf das System ein, verlagert sein Gewicht und erzwingt Richtungsänderungen. Geschwindigkeit, Masseträgheit, Reibung und Impulse – Fahrradfahren unterliegt sehr vielen Bereichen der Physik und das Verständnis der Theorie dahinter hilft einem, ein besseres Fahrerlebnis zu generieren.
Damit nicht genug – es gibt unterschiedlich schwere Fahrer und verschieden große Fahrer, deren Hauptmassen und Krafteinwirkungspunkte unterschiedlich verteilt sind. Von Klickpedalen und Flats und den damit verbundenen verschiedenen Fahrpostionen ganz zu schweigen: Also wo welche Kraft wirkt und wie stark, ist nicht in einer einfachen Formel mit einheitlichem Ergebnis darstellbar. Um hierfür ein Verständnis zu bekommen, wurden zwei Größen-Versionen meines Konzept-Bikes knapp drei Jahre lang von über 30 MountainbikerInnen bewegt. Doch bevor ich auf den Fahreindruck zu sprechen komme, gilt es, die Theorie hinter dem Projekt zu erklären.

Exkurs – Meine Bike-Vorgeschichte der letzten 21 Jahre
Auf der Suche nach einem Mountainbike landete ich immer wieder bei sehr schrägen Lösungen, die als unfahrbar deklariert wurden. Sei es ein Rocky Mountain RM6 mit Manitou X-Vert Carbon, ein Stumpjumper EVO in Rahmengröße S bei 1,91 m Körpergröße oder einem Slopestyle-Fully mit 160 mm Gabel… Das war glücklicherweise nicht nur für einige verwirrte Blicke anderer Biker oder Lacher im Freundeskreis gut. Mit jedem Experiment nahmen Wissen und Erfahrung zu, und sei es nur, dass ich danach wusste, was ich eben nicht als Eigenschaft an einem Bike wollte. Zu jedem neuen Rad, das sich in meinem Besitz befand oder mit jedem Testbike oder neuem Produkt am Markt, fing ich auch an, immer mehr Dinge in Frage zu stellen:
- Warum gibt es Lenker nur bis 700 mm für Downhilleinsatz?
- Warum kommen kleinere Rahmen mit kürzeren Vorbauten als große Rahmen?
- Warum untersteuert ein M-Rahmen unter mir weniger als ein L-Rahmen?
- Warum ist ein L von Hersteller A größer als ein L von Hersteller B?
- Warum brauche ich einen längeren Vorbau, um Druck aufs Vorderrad zu bekommen?
- Warum kann ich meinen Sattel nicht weit genug versenken, obwohl meine Sattelstütze lang genug wäre?
- Warum wächst ein vorderer Rahmen über die Größen hinweg mit aber die Kettenstrebe nicht?
- Warum kann man flache Lenkwinkel nicht auch an CC-Bikes haben?
- Warum ist man, was Laufradgrößen angeht, so sehr auf einen Einsatzbereich beschränkt?

Nicht alle dieser Fragen sind heute noch relevant, denn die Entwicklung blieb natürlich nicht stehen. Dennoch wuchs die Liste der Fragen immer weiter an und kann nur jedem Biker ans Herz legen, neugierig zu bleiben und Hintergründe und Funktionsweisen oder die eigenen Vorlieben immer wieder in Frage zu stellen. Viel zu oft findet man sich mit einem Umstand oder einer Eigenheit eines Produktes ab, ohne nach einer Lösung zu suchen, die möglicherweise sehr einfach zu erreichen wäre und zu einem sehr viel entspannteren oder spaßigeren Fahrerlebnis führen würde. Man muss sich nur mal die Zeit nehmen, ein paar ältere Fahrfotos oder -videos anzuschauen, um einen bestimmten Aspekt zu erkennen: Man sieht Fahrer fast durchgängig eine rückwärtige Fahrposition einnehmen, welche durch kurze Reachwerte begünstigt wird.

Über die Jahre kam ich als Tester in Kontakt mit einer Vielzahl an unterschiedlichsten Philosophien über Rahmenkonzepten und Fahrverhalten. Die Chance, die sich hier auftat, war gigantisch und jede Gelegenheit, einen Entwickler eines Bikes oder einer Suspension mit dem „Wieso, weshalb, warum…“ zu löchern, nahm ich wahr. Unterschiede in Geometrien, Fahrverhalten und Ausrichtung an eine bestimmte Nutzergruppe kristallisierten sich heraus und es wurde mir bewusst: Ein Rad, deklariert für einen bestimmten Einsatzbereich, von dem einen Hersteller, muss sich nicht zwangsläufig mit den Ideen oder dem Fahrverhalten eines anderen Herstellers decken, auch wenn beide für den gleichen Einsatzbereich gedacht sind. Nicht jede Eigenheit funktioniert für jeden und so beschloss ich, meinem eigenen Forschungsdrang freien Lauf zu lassen, indem ich meine eigenen Ideen in einem eigenen Rad realisieren würde.

Analyse allgemeiner Parameter
Körpergröße und Fahrstil
Mit genau 1,91 m und einem Gewicht in Radbekleidung von über 95 kg (mit Rucksack gerne auch mal 100 kg) sowie einem eher aktiven Fahrstil entstehen bei mir durchaus hohe Betriebslasten. Gleichzeitig benötige ich Platz, um meine Arme und Beine unterzubringen. Dazu leitet mein Gewicht, in Kombination mit der Fahrweise, ein hohes Maß an Energie in das Gesamtsystem Fahrrad ein. Eine entsprechende Abstimmung der Federelemente und Haltbarkeit der Komponenten steht somit schon immer auf der Agenda.
Die Erfahrung auf einer Vielzahl an Fahrrädern hat gezeigt, dass diese Faktoren von vielen Herstellern zugunsten leichterer Fahrer, einem niedrigeren Gesamtgewicht oder Fahreigenschaften des Bikes anders bewertet und priorisiert werden. Das ist keineswegs eine falsche Herangehensweise. Hierzu ein Beispiel aus einer anderen Branche, welches sehr gut nachvollziehen ist: Wenn es primär Leute gibt, die in weite T-Shirts der Größe M passen, ist es aus wirtschaftlicher Perspektive sinnvoll, primär dieses Produkt anzubieten.
Im Gespräch stellte sich dann oft heraus, dass man als Großgewachsener viele der Einschränkungen einfach hinnimmt
Allerdings scheint es da draußen auch viele Leute mit anderer Statur zu geben, die sich gerne ein passendes T-Shirt – in unserem Fall natürlich Bike – kaufen würden. Denn wie ich im Laufe der letzten Jahre glücklicherweise lernen durfte, bin ich mit meinen Anforderungen an ein Rad absolut nicht alleine. Ich habe viele Biker über 1,91 m kennen gelernt, die oftmals sehr seltsame Lösungen an ihren Bikes hatten, um es für sich passend zu machen. Im Gespräch stellte sich dann oft heraus, dass man als Großgewachsener viele der Einschränkungen einfach hinnimmt. Sei es, weil man nicht weiß, dass es eine Alternativen gäbe (bei einem Nischenhersteller, der nicht so bekannt ist wie die großen Marken) oder einfach, weil manche Optionen zu teuer wären (Maßrahmen, der am Ende vielleicht doch nicht passt). Mein Projekt-Bike sollte also auf jeden Fall größer sein als das, was es aktuell am Markt gibt und was ich in der Vergangenheit fahren konnte.
Wie geht es weiter?
Dies war der Beginn einer langen Reise und endlosen Stunden der Analyse aktueller Bikes und Geometrien der letzten 21 Jahre. In den kommenden Wochen wird jeweils dienstags das nächste Kapitel veröffentlicht. Darin werden alle einzelnen Parameter der Untersuchung einzeln erklärt und wie diese dann in den Prototyp einflossen – bis dieser dann schlussendlich tatsächlich auf zwei Rädern stand.
Was sind eure Erfahrungen mit Rahmengrößen? An welcher Stelle musstet ihr so lange herumwerkeln, bis euch das Bike wirklich passte?
Alle Artikel zum Forschungsprojekt Mountainbike-Geometrie:
- Forschungsprojekt Mountainbike-Geometrie (8/8): Der Fahreindruck – was kann der Prototyp? Das große Finale!
- Forschungsprojekt Mountainbike-Geometrie (7/8): Der Prototyp
- Forschungsprojekt Mountainbike-Geometrie (6/8): Lenkwinkel und Federweg
- Forschungsprojekt Mountainbike-Geometrie (5/8): Sitzwinkel und Sitzrohrlänge
- Forschungsprojekt Mountainbike-Geometrie (4/8): Wie wirkt sich die Vorbaulänge aus?
- Forschungsprojekt Mountainbike-Geometrie (3/8): Was ist die perfekte Kettenstrebenlänge?
- Forschungsprojekt Mountainbike-Geometrie (2/8): Wie entstehen Rahmengrößen?
- Forschungsprojekt Mountainbike-Geometrie (1/8): Auf der Suche nach dem perfekten Bike
Disclaimer: Das Forschungsprojekt Geometrie ist komplett privat finanziert worden und steht in keinerlei finanzieller Verbindung zu MTB-News oder externen Herstellern.
269 Kommentare
» Alle Kommentare im ForumIch glaube viel eher, dass es an der komplett anderen Kinematik zwischen Fußgelenk+Knie gegenüber Handgelenk+Ellenbogen liegt.
Fuß/Knie ist als Federelement kostruiert, Hand/Ellenbogen nicht.
Also ich fahre Flatpedals und drücke mich immer recht stark in die Pedale um nicht abzufliegen, große Löcher z.B. kann ich eher abfedern als das wenn es scheppert wie sau, da versuche ich meine Lenkzentrale im Griff zu haben. Federweg in den Beinen ist übrigens durch meine Sattelstütze limitiert ;-) und Liegestütz? Kann ich nicht.
Also viel schaffe ich echt nicht... jeder Joke ein bissl Ernst dabei.
Dann mach mal bissl Training, auch zwecks Rumpfmuskulatur und Drehbewegung usw...hilft evtl mehr.
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