Während man am Hardtail deutlich weniger Diskussionen um den Sitzwinkel hat, so ist die Diskussion um diesen Wert beim Fully in den letzten Jahren schier endlos. Zu flach? Realer Winkel? Effektiver Winkel? Was passiert bei viel Sattelauszug? Mit mehr Sag, mit weniger Sag? In der Theorie lässt sich hier oft keine belastbare Aussage treffen, ob ein Sitzwinkel für einen selbst passt oder nicht. Warum also ist dieser Wert so umstritten und warum sind die Werte verschiedener Hersteller so schwer vergleichbar?
Sitzwinkel
Kurze Kettenstreben, Umlenkhebel, etc. Viele Faktoren sorgen dafür, dass in den Rahmenkonstruktionen ein Sitzrohr nicht mehr klassisch geradlinig aus dem Tretlager nach oben führt.
Je nach Art des Trails finde ich Uphills durchaus spannend (ich werde bereuen, dies hier für jeden nachlesbar aufgeschrieben zu haben), dennoch gehören sie nicht zu meinen allerliebsten Übungen. Es ist mir also daran gelegen, diesen Teil der Ausfahrt, der nun mal immer mit dazugehört, so angenehm und schnell wie möglich zu gestalten.
Kurze Kettenstreben, Umlenkhebel, etc.: Viele Faktoren sorgen dafür, dass in den Rahmenkonstruktionen ein Sitzrohr nicht mehr klassisch geradlinig aus dem Tretlager nach oben führt. Das Sitzrohr ist an solchen Rahmen tendenziell sehr viel flacher angebracht. Zwar bleibt der effektive Sitzwinkel bis zu einem bestimmten Punkt immer noch steiler als der Winkel des Sitzrohrs – aber auch nur genau bis dahin. Danach wird er wieder flacher. Teilweise sogar deutlich. Erschwerend kommt hinzu, dass man durch den flachen Winkel effektiv etwas vom möglichen Gesamtauszug der Variostütze verliert. Aktuell wird das Angebot an Stützen mit mehr Hub als 150 mm immer größer, dennoch ist es erwähnenswert.
Ein wenig kann man über die Sattelposition kompensieren und bei vielen Bikes, die ich in den letzten Jahren fahren durfte, bekam ich mit einer Schrittlänge von 91 cm und einer Sitzhöhe von 80 cm (Mitte Tretlager bis Oberkante Sattel) ein Phänomen zu spüren, welches viele Bikes für mich auf steilen Auffahrten zur Qual machte:
Durch den flachen Sitzwinkel an manchen Bikes und den langen Auszug der Stütze ist meine Position und somit mein Schwerpunkt derart nach hinten verlagert, dass ich mich stark nach vorne lehnen muss, um einem steigenden Vorderrad entgegenzuwirken. Das kostet nicht nur Kraft, es ist auf Dauer auch sehr unangenehm für den unteren Rücken.
Optional könnte man die Sattelnase nach unten neigen, den Vorbau länger und die Front tiefer machen, aber diese Ausrichtung wäre wieder ein Kompromiss in der Abfahrtsfähigkeit des Bikes. Die Hintergründe dazu findet ihr im Artikel über die Vorbaulänge. Also musste für mich eine andere Lösung her.
Kann man also einen Sitzwinkel immer noch steiler machen?
Wer auf langen Ausfahrten viel selbst in die Pedale tritt, ist zumeist sehr viel penibler, was seine Sitzposition angeht, als jemand, der kürzere Zeitspannen tretend im Sattel verbringt. Dauerbelastungen ergeben sich dennoch für beide Nutzergruppen.
Menschen kommen in unterschiedlichsten Größen und mit extrem variablen Größenverhältnissen zwischen Oberkörper und Beinen sowie Ober- und Unterschenkeln. Ab einem gewissen (steilen) Punkt des Sitzrohres und/oder einem langen Oberschenkel ergibt sich ein ungünstiger Winkel im Knie. Die klassische Knielot-Methode, bei der man von der Kniescheibe ein Lot durch die Pedalachse führt, hilft, hier einen guten Startwert zu finden.
Insbesondere mit Klickpedalen, bei denen man in der Regel und systembedingt etwas mehr mit dem Vorfuß über der Pedalachse steht, kann dies in Kombination mit einem steilen Sitzwinkel aus ergonomischer Sicht zum Problem werden. Der Wert X in der Illustration zeigt, wie sich die Fußposition und/oder die Fußgröße auf die Position über der Pedalachse auswirkt. Nicht jede Krafteinleitung ins Kniegelenk unter jedem Winkel ist ideal. Im schlechtesten Fall kann eine falsche Ergonomie am Bike auf Dauer zu Beschwerden führen.
Über ein Verschieben des Sattels oder im CC-Bereich über eine Setback-Stütze kann man hier einem zu steilen Sitzwinkel entgegenwirken. Bei der Verwendung einer Variostütze ist dieser Verstellbereich allerdings eingeschränkt. Ob es bald Variostützen mit anpassbarem Setback gibt? Es wäre zu begrüßen.
Sprinteinlagen mit komplett ausgezogener oder ausgefahrener Sattelstütze können auch zu einem Problem werden, denn nach dem Aufstehen befindet sich der Sattel noch recht nah am Hintern des Fahrers. Zieht man nun am Lenker, um mehr Anpressdruck auf die Pedale zu bekommen, und legt das Rad entsprechend von links nach rechts, bleibt man eher mit der Hose an der Sattelnase hängen.
Sitzrohrlänge
Manche Hersteller geben die Größen ihrer Mountainbikes immer noch mit der Länge des Sitzrohres an. Was für Rennräder funktionieren mag, ist bei Mountainbikes meiner Meinung nach schlicht fehl am Platz. Zusätzlich frage ich mich ernsthaft, welcher Hüne ein Bike fahren soll, welches über eine Sitzrohrlänge von über 50 cm verfügt? In Kombination mit einer Remote-Sattelstütze ergibt sich hier folgende Beispielrechnung:
Sitzrohrlänge: 500 mm
Hub Fox Transfer-Stütze: 150 mm
Gesamtlänge einer exemplarischen Fox Transfer-Stütze: 450 mm
Mindesteinstecktiefe: 100 mm
In dieser Kombination mit einem montierten Sattel ist eine maximale Sitzhöhe von zirka 890 mm möglich (gemessen von Mitte Tretlager bis zur Oberkante Sattel). Verwendet man eine Kurbel mit 170 mm Länge, ergäbe sich eine maximale Schrittlänge von zirka 106 cm. Geht man von einem durchschnittlichen Verhältnis von Beinlänge zu Körpergröße aus, käme mit solch einem langen Sattelrohr erst ein Mensch mit einer Größe von zirka 2,21 m an die Grenze des maximalen Auszugs.
Ich bin 1,91 m groß und meine Schrittlänge liegt bei 91 cm. Testfahrer Chris Spath hat vergleichsweise längere Beine von 96 cm bei gleicher Körpergröße. Nicht jeder Mensch hat also bei gleicher Größe die gleichen Dimensionen. Wer sich hier weiter informieren möchte, dem empfehle ich die Lektüre des sogenannten Affenindex und auch im IBC-Forum gab es schon spannende Erhebungen zum Thema.
Vergleicht man das Verhältnis von Schrittlänge zur Körpergröße, wäre jemand mit 107,5 cm Schrittlänge und dem gleichen Verhältnis von Schrittlänge zu Körpergröße wie ich zirka 2,24 m groß. Wenn derjenige dann noch mit einem Reach von 480 mm konfrontiert ist, wird er weiterhin gezwungen sein, einen Vorbau mit mindestens 100 mm zu nutzen, um nicht wie der Affe auf dem Schleifstein zu sitzen. Rahmengröße darüber? Leider immer noch oft Fehlanzeige. Möglichkeiten für kleinere Fahrer, einen größeren Rahmen mit kurzem Vorbau zu fahren? Nicht gegeben.
In der Vergangenheit musste ich immer wieder zu kleineren Rahmen mit kürzeren Sitzrohren greifen, um meine gewünschte Bewegungsfreiheit zu erreichen. Mit allen Nachteilen, die damit ins Haus kommen.
Daraus ergaben sich drei Hauptprobleme:
- Vorbau zu lang für agiles Fahren
- Kurzer Radstand
- Nervöses Fahrverhalten
Wenn es in technisches oder verspieltes Gelände geht, ist es für mich essenziell, den Sattel aus dem Weg zu bekommen, um meinen Schwerpunkt tiefer zu legen für die Schläge, die da von vorne kommen. Hierfür montiere ich auch gerne noch einen zusätzlichen Schnellspanner an meine Variostütze, wenn sie nicht über mehr als 150 mm Hub verfügt.
Es gibt am Markt mittlerweile Variostützen mit bis zu 200 mm Hub. Warum braucht es dann noch so unfassbar lange Sitzrohre? Wenn die Kräfte am Übergang zum Oberrohr grenzwertig werden, könnte man das durchs kürzere Sitzrohr eingesparte Material hier unterbringen, um die Lebensdauer zu erhöhen. Somit wird der Rahmen nicht schwerer und man ermöglicht einem breiteren Spektrum an Körpergrößen die Option, ein Bike nach der Länge und nicht nur danach auszusuchen, ob man den Sattel aus dem Weg schaffen kann.
Hattet ihr schonmal das Problem, aufgrund eines zu kurzen Sitzrohrs keine ausreichende Sitzhöhe zu erreichen?
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Disclaimer: Das Forschungsprojekt Geometrie ist komplett privat finanziert worden und steht in keinerlei finanzieller Verbindung zu MTB-News oder externen Herstellern.
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