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Lokal, global … egal?
Kommt mein Bike bald aus Europa?

Erwartungsgemäß hat sich die schwierige Liefersituation innerhalb der Bike-Industrie auch 2021 nicht entspannt und für 2022 sehen die Aussichten kaum rosiger aus. Angesichts überfüllter Fabriken an den Produktionsstandorten in Asien und dem immer bedrohlicher wirkenden Klimawandel rückt das Thema lokale Produktion wieder mehr in den Fokus. Nicht nur die Nutzer, auch die Hersteller scheinen sich damit ernsthaft zu beschäftigen und entsprechend Änderungen in Erwägung zu ziehen.

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Die Schlussfolgerung ist ja irgendwie ganz logisch: Die Fabriken in Asien sind überlastet – also fertigen wir einfach wieder hier. Dieser Gedanke wurde in Mountainbike-Foren wie dem unseren in den letzten Monaten und Jahren vermehrt geäußert. Und ja, warum eigentlich nicht – es gibt in Europa immer noch richtig viel fertigende Industrie? Von Robotern über Automobile bis hin zu extrem feinen und präzisen optischen Systemen. Wie schwer kann es da schon sein, so etwas vermeintlich Simples wie ein Fahrrad zu fertigen? Und wäre das nicht auch besser für die Umwelt? Warum fertigen viele Firmen überhaupt in Asien, welche Dynamiken wirken dort und wie wichtig sind ökonomische Faktoren? Wir haben uns mit Entwicklern, Marketing-Experten und Firmengründern über die Vor- und Nachteile einer lokalen oder globalen Fertigung unterhalten.

Made in Europe – geht das überhaupt?

Um das zu beantworten, sollte man sich zuerst fragen, was man eigentlich herstellen will. Natürlich sind vergleichsweise simple Komponenten wie beispielsweise ein gefräster Vorbau unabhängiger und einfacher machbar als ein kompletter Rahmen, für den es möglicherweise Spezialwerkzeuge braucht. Dass auch das möglich ist, zeigen vor allem kleinere Hersteller regelmäßig. Nicolai Bikes sind berühmt dafür, den Großteil ihrer Fertigung direkt vor Ort zu haben, dazu kommen noch kleinere Firmen wie Crossworx, Kavenz oder Actofive mit einem komplett gefrästen Rad. Die Traditionsfirma Last hat sich ausgerechnet mit einem hochwertigen Carbon-Rad (Last Tarvo-Test) wieder der lokalen Fertigung zugewannt und auch Alutech hat mitten in der Pandemie angekündigt, eine große „Made in Germany“-Serie aufzulegen.

# Es kommt ganz drauf an, was man herstellen möchte - die Firma Tune ist berühmt für ihre Nabenfertigung in Süddeutschland.

Nun sind das allerdings alles Firmen, die ein fachkundiges Publikum im High-End-Bereich ansprechen. Gerade das Umwelt-Argument spricht allerdings dafür, die Massenproduktion ebenfalls möglichst lokal zu erledigen. Doch konzentrieren wir uns erst mal auf den Mittelstand. Beim Rahmenbau dominieren seit Jahren zwei Materialien: Aluminium und Carbon. „Steel is real“ gilt nur noch in wenigen Nischen. Tatsächlich ist selbst die Massenfertigung – bis auf wenige Ausnahmen – größtenteils Handarbeit, erfordert vor allem für Aluminium jedoch auch spezielle Maschinen. Teile müssen gefräst, geschmiedet, geschnitten, gebogen, hydroformiert, geschweißt, getempert, gerichtet, poliert, lackiert, etc. pp. werden. Da wirkt die cleane Carbon-Fertigung, von den recht aufwendig gefrästen Formen mal abgesehen, fast schon simpel, verschlingt jedoch auch einiges an Arbeitskraft, Energie und Know-how.

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Bekannt ist: In Taiwan, China und weiteren asiatischen Staaten gibt es Anbieter, die einem Unternehmen diesen ganzen Fertigungsaufwand abnehmen, sodass man sich nur noch um die Entwicklung, Kommunikation, Qualitätssicherung und später (wahlweise) die Montage und den Vertrieb sowie Verkauf kümmern muss. Wer möchte, kann sogar darauf verzichten und einfach fertige Katalog-Bikes kaufen, was natürlich stark auf Kosten der Individualisierung geht. Doch gibt es so etwas auch in Europa?

Sicherlich nicht in demselben Maße, doch spricht man das Thema bei Industrie-Insidern an, werden schnell die Länder Portugal und Bulgarien genannt. Gegenüber der Industrie-News-Website www.bike-eu.com erläutert die Generalsekretärin des portugiesischen Bike-Industrie-Verbands ABIMOTA, Gil Nadais, dass der Fahrrad-Sektor dort vor allem in den 80er und 90 Jahren stark geschwunden ist, sich aktuell allerdings in einer Aufschwungphase befindet, die durch die Corona-Pandemie verstärkt wurde. Das dürfte sich auch mit den subjektiven Eindrücken vieler Fahrrad-Enthusiasten decken. In Portugal fertigt nicht nur SRAM seit Ende der 90er-Jahre Ketten – und seit dem Erwerb von Time Sports auch Pedale – dort sitzt mit RTE der nach eigenen Angaben größte europäische Bike-Produzent. RTE betreibt ein eigenes Werk für den französischen Sportriesen Decathlon und seit neustem auch eine E-Bike-Fabrik sowie ein Werk für Laufräder und zur Montage in Polen. Die Firma ist im Gegensatz zu bekannteren europäischen Namen jedoch voll auf die Produktion sehr günstiger Räder für den europäischen Massenmarkt ausgerichtet.

# Um Fahrrad-Komponenten herzustellen, braucht man neben Spezialwerkzeugen auch kundige Fachkräfte.

Oft beschränkt sich die Produktion in Zentral- und Ost-Europa jedoch tatsächlich auf die Montage. Grund dafür sind unter anderem hohe Strafzölle der EU, die dafür sorgen, dass komplette Fahrräder stärker bezollt werden als einzelne Teile. Dadurch haben nicht nur große europäische Hersteller eigene Montage-Standorte aufgebaut, auch asiatische Firmen investieren in europäische Montage-Betriebe, um so höhere Zölle umgehen zu können. Doch „assembled in Europe“ ist für die meisten Bike-Enthusiasten wohl kaum mit „made in Europe“ gleichzusetzen.

Vor- und Nachteile

Mal abgesehen davon, dass man sich damit im IBC-Forum ein paar Freunde macht – was spricht überhaupt dafür oder dagegen, in Europa zu produzieren? Wie bereits erwähnt, ist es in Asien aktuell schließlich möglich, mit nur minimalem persönlichem Aufwand große Stückzahlen an Rahmen zu bestellen. Wer möchte, kann sogar lediglich eine Stückliste erstellen und bekommt komplett montierte Bikes vor die Haustüre gekarrt – die Assembly-Fabrik übernimmt die komplette Bestellung und Kommunikation und stellt am Ende einfach alles in Rechnung. In Pandemie-Zeiten kann das ein Vorteil sein – schließlich bezahlt man das Produkt erst, wenn es geliefert wird. Fehlt also ein Teil, etwa der Sattel, hat man zwar nichts zu verkaufen, aber auch noch nichts bezahlt. Das Ganze ist jedoch auch ein zweischneidiges Schwert, denn die Assembly Factory gibt ihre Bestellungen wohl häufig erst in Auftrag, wenn die Stückliste komplett und für alles ein Produzent gefunden ist. Hängt es irgendwo an einem Rahmen-Teil, dann wird auch solange kein Schaltwerk bestellt – egal ob das ohnehin gerade 15 Monate Lieferzeit hat. Das kann die Lieferfähigkeit verschlechtern.

# Wer möchte, kann seine Räder auch direkt in Asien zusammenbauen lassen und muss sich selbst um sehr wenig kümmern - das kostet dann allerdings Strafzölle. KTM baut Räder deshalb in Österreich zusammen.

Fragt man bei europäischen Herstellern nach, was genau sie sich von einer Produktion vor Ort versprechen, dann werden eine größere Flexibilität, Nähe zum Kunden und einfachere Qualitätskontrolle sowie Kommunikation gewünscht. War es für viele kleinere Unternehmen bereits in vorpandemischen Zeiten schwierig, regelmäßige Qualitätskontrollen vor Ort durchzuführen, so kommen auch internationale Firmen durch die geltenden Reisebeschränkungen so langsam in die Bredouille. Und wenn nach monatelanger Wartezeit endlich der Container mit der heiß ersehnten Ware auf dem Hof steht, man beim Begutachten jedoch feststellt, dass der Ausschuss wesentlich höher als erhofft ausfällt, dann hat man ein echtes Problem. Um das auszuschließen, muss man viel Aufwand in die Kommunikation stecken, wofür oft eher gut bezahlte und ausgebildete Leute gebraucht werden.

Angesichts des (möglicherweise) gestiegenen Aufwands kann man die wirtschaftliche Machbarkeit natürlich neu bewerten: Könnte man sich den Aufwand und die Kosten für die Kommunikation mit einem Fabrikanten auf einem anderen Kontinent nicht sparen und stattdessen die etwas höheren Lohn- und Fertigungskosten an einem räumlich wesentlich näheren und eventuell flexibleren Standort in Kauf nehmen? Das ist sicherlich eine Überlegung, die nicht nur Nischenhersteller, sondern auch Unternehmen größeren Kalibers regelmäßig überprüfen.

Wer seine eigene Fertigung in Deutschland aufbauen will, der muss jedenfalls einiges an Know-how mitbringen – einen Service wie bei asiatischen Lieferanten sucht man vergeblich. Stattdessen muss man sich die Fachleute selbst zusammensuchen, was gerade in der Alu-Fertigung alles andere als einfach ist. Dass die Suche nach fähigen Alu-Schweißern hierzulande keine leichte ist, dürfte hinlänglich bekannt sein. Doch damit ist es ja nicht getan – anschließend muss der Rahmen auch getempert werden, um seine Endfestigkeit zu erhalten, was insbesondere bei Hydroforming-fähigen Alu-Legierungen recht speziell ist. Der Umstand wird sicherlich dazu beigetragen haben, dass man derartige Rohrsätze an in Deutschland geschweißten Rädern selten findet.

# Nicht nur fähige Alu-Schweißer sind in Deutschland schwer zu kriegen - um einen Au-Rahmen zu produzieren, braucht es viel Werkzeug und häufig auch Spezialöfen zum Auslagern.

Nicht vergessen sollte man auch die Textil-Industrie. Während eine Rahmenfertigung in Deutschland zwar mit viel Aufwand verbunden, aber theoretisch – vielleicht als Kooperation mehrerer mittelständischer Hersteller – möglich wäre, gestaltet sich die Herstellung hochwertiger Outdoor-Textilien extrem schwierig. So zumindest die Rucksack-Spezialisten von Evoc. Die Münchner haben Europa als Produktionsstandort eigenen Angaben zufolge zwar stets im Blick, sehen aktuell allerdings nur mit extrem hohem Aufwand die Möglichkeit, die benötigten Mengen in der gewohnten Qualität hierzulande zu produzieren. Außerdem gibt man zu bedenken, dass man in Nordamerika ebenfalls einen großen Markt hat und der aktuelle Produktionsstandort in Asien damit relativ zentral liegt.

Ähnlich argumentiert DT Swiss. Die Schweizer Laufrad-Spezialisten gehören zu den größeren Zulieferern der Bike-Industrie und waren auch vor der Pandemie mit Werken in Polen, Asien und den USA schon breit aufgestellt. Die von vielen geforderte Diversifizierung – also die Produktion eher auf mehrere Standorte zu verteilen, statt an einem Standort zu konzentrieren – ist für sie also nichts Neues. Als Grund nennt man vor allem die Nähe zum Kunden: Lassen die großen Bike-Hersteller ihre Räder in Asien zusammenbauen, macht es für Zulieferer wenig Sinn, Teile von Europa nach Asien und anschließend zurück nach Europa oder Nordamerika schippern zu lassen. Dass das auch unter ökologischen Gesichtspunkten unsinnig anmutet, muss man wohl eigentlich nicht dazu schreiben. In den vergangenen Jahren wurde die polnische Fertigung weiter ausgebaut – sollten sich nicht zuletzt durch die Folgen der Pandemie also wieder mehr OEM-Kunden in Europa ansiedeln, werden die Schweizer – und mit ihnen viele andere Komponenten-Hersteller – sicherlich damit fortfahren.

Die aktuelle Entwicklung

Ziehen wir mal einen Schlussstrich: War’s das mit der Produktion in Asien und kommt bald alles vom High-End-Mountainbike bis zum legendären Esso-Rad aus Orten wie Castrop-Rauxel, Zella-Mehlis oder Bad Rippoldsau-Schapbach? Vermutlich nicht, allerdings ist durchaus ein Trend erkennbar. So haben wir allein in den letzten Tagen von den Plänen des Konglomerats „Carbon-Team“ über eine hochwertige, hochautomatisierte Fertigung von Carbon-Rahmen in Portugal berichtet (Kohlefaser-Rahmen aus Portugal: „Carbon Team“ mit großen Plänen). Ähnliches hat schon das Unternehmen Guerilla Gravity mit seiner automatisierten Revved-Carbon-Fertigung in den USA geschafft. Das Traditionsunternehmen Bianchi investiert seit 2021 über 40 Millionen Euro in den Ausbau ihrer italienischen Fertigung und verspricht sich davon vorrangig mehr Kontrolle über Produktionsprozesse. Und nun will auch PON, Besitzer von Santa Cruz, Cannondale, GT und Focus, eine Produktionsanlage in Litauen hochziehen, in der bis zu 600.000 Bikes jährlich vom Band rollen sollen – wir berichteten in unserer Artikelserie Bike Biz Backstage.

# Die Firma Unno aus Barcelona ist bekannt dafür, alles vor Ort möglichst hochwertig und lokal zu fertigen. - Das kostet natürlich auch.

Spannend an der Entwicklung ist, dass sich viele dieser Produktionsanlagen in Ost- und Süd-Europa tatsächlich an den Massenmarkt richten und keine edlen High End-Räder à la Unno oder Antidote herstellen wollen. Dank moderner Anlagen, einer hohen Produktivität, geringen Transport und Einfuhr-Kosten und nicht zuletzt niedrigen Löhnen kann man es dort wohl auch im günstigen Sektor mit der bekannten Konkurrenz aus Asien aufnehmen.

Erste mittelständische Marken, die irgendwo zwischen Manufaktur und Branchen-Riese angesiedelt sind, versuchen ebenfalls, mit unterschiedlichen Konzepten eine lokale Fertigung auf die Beine zu stellen, sind dabei allerdings auch von den Großen abhängig. Denn die sorgen mit ihren riesigen Aufträgen ja dafür, dass sich die Anschaffung spezieller Werkzeuge, die Planung von Fertigungsstraßen sowie das Anlernen von Spezialkräften überhaupt erst lohnt. Ein kleineres Unternehmen, das mit sehr hohen Anforderungen, genauen Vorstellungen und geringen Stückzahlen an einen Rahmenhersteller herantritt, ist eben manchmal auch abhängig davon, dass dieser seine hohen Investitionen mit Großaufträgen finanzieren kann. Während der Corona-Krise hat diese Abhängigkeit für einige natürlich sehr negative Auswirkungen gehabt, als Fertigungskapazitäten auf einmal knapp wurden. Sollte nun eine ähnliche Industrie in Europa entstehen, wird sich an diesem Umstand tatsächlich wenig ändern.

Was denkst du: Werden wir bald mehr Räder, die vollständig in Europa hergestellt wurden, in den Läden sehen?

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