Sättel gehören, verglichen mit Federelementen und Schaltungen, zu den weniger komplexen Teilen am Fahrrad. Dennoch entscheiden Sie maßgeblich über Lust und Frust, denn ein schmerzendes Gesäß vermag noch die schönste Tour zu vermasseln. Also, wie entsteht so ein Sattel? Wir haben es uns bei 66Sick zeigen lassen.
Gestell
Fangen wir einmal von unten an: Ein Sattel hat ein Gestell, über das er an der Sattelstütze befestigt wird. Seit Jahren, ja Jahrzehnten wird das Gestell sehr häufig durch ein gebogenes Rohr hergestellt. Je nach Qualität des Sattels handelt es sich dabei tatsächlich um ein hohles Rohr aus hochwertigem Stahl oder gar Titan, bei günstigeren Sätteln ist es einfach ein voller Stab. Das gute an der Lösung: Billig herzustellen und unkompliziert in der Längenverstellung. Das schlechte: Verbiegt gerne Mal und ist sicher nicht die leichteste Lösung.
Vor einiger Zeit präsentierte SDG mit dem I-Beam-System, einem Doppel-T-Profil, eine leichtere und günstigere Alternative an. Das I-Profil ist tatsächlich schön steif, leicht und im Spritzguss herstellbar. Aber: Die Durchbiegung ist eine ganz andere, weshalb nicht jeder die Sättel komfortabel fand. Teleskopstützen gibt es heute nur für die beiden 7 mm-Streben, womit es sich hierbei neben dem Pedalgewinde um einen der ältesten Standards am Mountainbike handeln dürfte. Potential gibt es hier definitiv, denn zwei auf Biegung belastete Röhrchen sind keine geniale Lösung … Auch wenn leichte Carbon-Ausführungen durchaus funktionieren: clever war da schon eher der I-Beam. 66sick setzt je nach Preislevel auf ein Carbon- oder ein Stahlgestell, mit der entsprechenden Gewichtsersparnis und dem gewohnten Mehrpreis durch den Faserverbund-Werkstoff.
Schale
Das Gestell ist in die Schale eingeklemmt und geklebt. Die Schale gibt dem Sattel seine Steifigkeit, was auch bedeutet: Sie bestimmt seinen Komfort mit. 66sick setzt hier auf einen ebenfalls faserverstärkten Kunststoff, die kürzeren Fasern mit geringerem Anteil sorgen aber für eine geringere Steifigkeit als bei Schalen, in denen textile Kohlenstofffaserlagen verbaut werden. Die geringe Steifigkeit erhöht den Komfort, da die Schale sich so beim Pedalieren nachgiebiger zeigt.
Abgesehen vom Material ist die Form der Schale entscheidend. Breite und Länge, aber auch die Krümmung und etwaige Aussparungen stehen zur Diskussion. 66sick verwendet inzwischen erstmals und als einziger Hersteller eine leichte Stufe zwischen Nase und Höcker kombiniert mit einer Aussparung im Dammbereich. Änderungen an dieser Form sind teuer, da sie ein neues Spritzgusswerkzeug bedeuten.
Die Schalenform unterscheidet sich heute im Wesentlichen kaum: An 3 Punkten mit dem Gestell verbunden, vorne schmal, hinten breit. Das muss gar nicht so sein, denn die Sattelnase hat eigentlich nur beim Im-Stehen-Fahren und beim Freihändig-Fahren eine Bedeutung. Ob es an der Optik liegt, dass sich Alternativen bisher nicht durchsetzen konnten?
Polsterung
Kommen wir zum vielleicht entscheidendsten Sattelbestandteil, wenn es um den Komfort geht: Die Polsterung. Sie bestimmt, wie hart oder weich der Sattel ist, und wie sich der Druck verteilt. Hochwertige Sättel nutzen hierbei nicht nur einen Schaumstoff, sondern kombinieren mehrere für die richtigen Eigenschaften. Beim FTD-Sattel werden so zum Beispiel drei verschiedene Materialien verwendet. Die Grundlage bildet ein eher straffer Schaum. Über diesem findet sich im Gesäßbereich eine weitere Lage etwas weicheren Schaumstoffs. Eine Decklage weichen Schaumschoffs bildet die oberste Schicht der Polsterung. Das Ergebnis ist, dass sich der Sattel bequem anfühlt und dennoch bei langen Touren die nötige Unterstützung bietet.
Der Schaumstoff gibt dem Sattel gleichzeitig seine Form, entscheidet also, ob es eine Stufe, eine Vertiefung, eine breite Nase oder oder oder gibt. 66Sick hat lange Jahre, genau wie der ehemalige Lieferant SQLab oder auch Ergon, verschiedene Breiten angeboten, um verschiedene Sitzknochenabstände zu bedienen. Nun ist es aber so, dass der Sitzknochenabstand zwar leicht von Person zu Person schwankt, sich eine ganz wesentliche Änderung aber durch die Sitzposition, genauer gesagt die Neigung des Oberkörpers, ergibt. Deshalb ist es im Grunde primär eine Frage der Sitzposition, in welchem Abstand die Sitzknochen auf den Sattel drücken. 66Sick hat nun, und zwar schlicht in Handarbeit und durch sehr viele Probefahrten, eine Sattelform entwickelt, die die Vermessung der Sitzknochenbreite überflüssig machen soll. Das Schaummaterial lässt sich mit Dremel und Feile bearbeiten, und recht kleine Veränderungen haben große Auswirkungen: Durch eine Krümmung der Sattelfläche können verschiedene Sitzknochenbreiten auf dem selben Sattel komfortabel gestützt werden. Die angedeutete Stufe und Vertiefung nimmt dabei den Druck aus dem Dammbereich. Die Nase ist ohnehin nur für die Stabilisierung des Bikes gedacht, gesessen wird im hinteren Bereich.
Bezug
Obendrüber kommt ein Bezug – der sollte leicht zu reinigen, wasserfest und haltbar sein. Als alter Rennsport-Fan bietet Sascha Meyenborg seine Sättel auch mit Alcantara-„Leder“ an, was viel Grip bietet, aber nach Nässe länger braucht, um zu trocknen. Alcantara ist streng genommen kein Leder (also vegan, yeah!), sondern ein Kunstfasergemisch. Wer es individuell mag, kann übrigens inzwischen aus Hunderten von echten Ledersorten wählen und sich seinen individuellen 66Sick-Sattel beziehen lassen. Die Arbeit wird in Berlin durchgeführt und kann auch spezielle (Schlangenleder-Applikation, anyone?) Wünsche erfüllen.
Hättet ihr so viel Handarbeit in der Entwicklung erwartet? Oder worauf bettet ihr euren Allerwertesten am liebsten?
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