Solo Air, Dual Air, Triple Air – MegNeg, Evol und noch mehr. Wer steigt da noch durch? Was soll das und was bringt was und vor allem: Wie geht man als Entwickler an die Auslegung einer solchen Luftfeder, wo sind die Grenzen? Diese Fragen klärt Cornelius aka BommelMaster, Kopf hinter Intend, in dieser Episode von Drehmomente am Dienstag.
Zu Beginn war alles starr, Federungen undenkbar – zu schwer und zu teuer. Geändert hat sich das in der zweiten Hälfte der 90er Jahre, als die ersten Federgabeln auf den Markt kamen. Ein paar Jahre später funktionierten sie dann auch gut, die Elastomere verschwanden. Die meisten nutzten dann einfach Stahlfedern. Manche Federgabeln hatten damals schon Luft als Federmedium, meistens aber mit deutlich reduzierter Funktionsfähigkeit. Warum ist das so? Dafür erstmal ein klitzekleines bisschen Mathematik.
Der Kraft-Weg-Verlauf einer Stahlfeder ist beschrieben durch:
F = Federhärte * Weg
Der Kraft-Weg-Verlauf einer simplen, banalen Luftfeder durch:
F = Luftdruck * Kolbenfläche
wobei sich der Luftdruck beim Einfedern erhöht und die Kennlinie erzeugt. Auf dem Papier sieht das dann folgendermaßen aus:
Man sieht deutlich, dass die Stahlfeder von Beginn an mit geringster Kraft eine Bewegung ausführen kann. Die Luftfeder dagegen besitzt eine erhebliche Vorspannung. Würde man so eine Luftfeder in ein Fahrwerk einbauen, würde sich erstmal gar nichts tun. Erst bei harten Einschlägen würde die Federung beginnen zu arbeiten, wäre dann aber ruck-zuck durchschlagen – nicht unbedingt das, was man von einem sensiblen, plüschigen und satten Fahrwerk erwarten will.
Was also tun? Damit leben? Stahlfeder fahren?
Nein, es gibt Lösungen hierfür: Man braucht ein Element, welches einem beim Einfedern behilflich ist. Eine Einfederunterstützung sozusagen. Die dafür sorgt, dass die hohe Vorspannkraft nicht vom Fahrer überwunden werden muss, sondern von einer 3. Macht, welche der Vorspannung der Luftfeder entgegen wirkt und dafür sorgt, dass man als Fahrer nur noch die Hand auflegen muss, um die Federung zum Arbeiten zu bringen.
Dieses Element wird im üblichen Sprachgebrauch Negativfeder genannt, weil es entgegengesetzt zur Hauptfeder, der sogenannten Positivfeder, wirkt. Als Negativfeder eignen sich verschiedene Elemente, die bekanntesten sind Stahl und Luft.
1. Möglichkeit – Stahlnegativfeder
Die Vorteile liegen vermeintlich auf der Hand: Sie kann nicht undicht werden. Aber was noch? Zugegeben, ich persönlich bin hier befangen und finde Stahlnegativfedern doof. Etwas „Meinung“ darf ich mir hier erlauben, aber ich möchte sie nicht unbegründet lassen. Dazu gleich mehr.
2. Möglichkeit – Luftnegativfeder
Die Vorteile sind einfach: eine anpassbare Luftnegativfeder passt sich in ihrer Härte an die Härte der Positivluftfeder an, sie ist mit ihr also immer im Gleichgewicht (Eine Stahlnegativfeder müsste entsprechend ausgetauscht werden). Dazu kommt: Die Luftnegativfeder ist leicht, kostet fast nichts und hat nebenher noch einen weiteren Vorteil: es kann nichts klappern. Da es in der Konstruktion schwieriger ist als man denkt, eine über viele Zentimeter bewegte Stahlfeder zur Gänze geräuschlos zu halten, finde ich das gar nicht so unwichtig. Sowohl die Feder an sich muss abgerundete Enden haben, welche in einer festen Verankerung sitzen und nicht verrutschen, als auch die Außenhülle darf nicht berührt werden – auch wenn die Feder unter Druck ausbeult. Ansonsten droht Metallabrieb, Gift für jedes Federgabel-Innenleben.
Um etwas aus dem Nähkästchen zu plaudern: Die Auslegung einer solchen Feder und die Beschaffung eben dieser ist für einen Kleinserienhersteller wie Intend BC alles andere als einfach. Die Härte muss von 50 – 150 kg benutzbar sein, von optimaler Funktion kann dann sowieso keine Rede mehr sein. Auch für große Hersteller ist das schwer, von Charge zu Charge haben die Federn manchmal auch etwas andere Geometrien, die Befestigung ist dann oft ungenau. Meistens haben die Federhersteller eine Mindestbestellmenge von 1000 – 2000 Stück. Da wird es dann für kleine Hersteller schwierig, wenn man sich nicht 100 %-ig sicher ist, ob die Feder später auch wirklich passt. So gesehen ist das mit der Luftnegativfeder ein vergleichsweise einfaches Unterfangen. Aber nicht nur die Beschaffung spricht dafür – sie hat auch funktionale Vorteile, dazu möchte ich mit zwei Grafiken arbeiten:
Links zu sehen eine Positivluftfeder mit einer Stahlnegativfeder mit rund 6 cm Hub. Rechts zu sehen eine Positivluftfeder mit einer Luftnegativfeder.
Zugegeben – die rechnerische Ausführung der Stahlnegativfeder im Diagramm ist etwas ungünstig gewählt, aber es ist nicht ganz unrealistisch und soll den technischen Nachteil verdeutlichen: Es gibt einen Knick in der Kennlinie an der Stelle, an welcher die Stahlfeder aufhört zu wirken. Bis dahin ist alles top, fluffig und linear, aber ab dem Knick spürt man einen deutlichen Unterschied. Natürlich kann man auch ein System mit einer Stahlnegativfeder „besser“ auslegen, dass der Knick nicht sicht- und spürbar ist. Problem dabei: wenn man dies für 75 kg Durchschnittsfahrergewicht macht, blicken alle mit stark abweichenden Fahrergewichten in die Röhre. Eine Dame mit 50 kg wird die Gabel ebenso wenig optimal einstellen können wie eine Fahrerin mit 120 kg. Bei beiden Extremen findet sich wieder dieser Knick in der Kennlinie. Ziel und Aufgabe in der Konstruktion ist aber natürlich, ein Produkt zu bauen, das allen Fahrerinnen und Fahrern eine, soweit möglich, optimale Funktion bieten kann.
Das bringt uns zur Luftnegativfeder. Sie kommt zur Gänze ohne Knick aus, und die Charakteristik dieser Kennlinie ändert sich nicht, wenn der Luftdruck gesenkt oder erhöht wird. Sie ist immer gleich. Was nun noch sichtbar ist, ist der Buckel am Anfang der Kennlinie – das ist genau das Thema, worum sich aktuell alles dreht. DebonAir- und Evol-Luftfedern sind allen ein Begriff. Zuerst möchte ich mit etwas Prosa versuchen zu erklären, worum es hierbei geht:
Mit einer Negativfeder wird in erster Linie ein Kräftegleichgewicht im ausgefederten Zustand erreicht. Das bedeutet, dass die Kennlinie im Nullpunkt auch durch den Nullpunkt geht und keine interne Vorspannkraft herrscht. Heißt auf Deutsch: Wenn ich die Federung mit 10 Gramm belaste, beginnt sie, sich zu bewegen. Das würde auch eine Negativluftfeder mit einer Länge von 5 mm erreichen. Das würde dann so aussehen:
Die Kraft im Nullpunkt ist ausgeglichen, aber schon nach 1 – 2 cm Federweg reduziert sich der Druck in der Negativfeder durch die Expansion deutlich (wenn man eine Kammer mit 5 mm Länge auf 10 mm vergrößert, halbiert sich der Druck), und es ist keine Einfederhilfe mehr vorhanden, der Rest der Kennlinie ähnelt exakt der Luftfederkennlinie ohne Negativfeder – eine Charakteristik, die man gar nicht brauchen kann.
Wenn also die Länge der Negativfeder so einen Einfluss hat, warum nicht einfach länger machen? Genau! Das ist es auch, was aktuelle Luftfahrwerke so viel besser macht als von Annodazumal. Hier der Vergleich zwischen einer Luftfeder mit einer kurzen Negativluftfeder, wie es noch vor 2-3 Jahren in jeder Großserien-Gabel üblich war und einer mit einer längeren Negativfeder:
In grün zu sehen ist die Version mit 25 mm langer Negativfeder, in blau zu sehen die Version mit 50 mm langer Negativfeder, was grob überschlagen beispielsweise die DebonAir- und Evol-Air Systeme darstellt (@ Fox und @ Rockshox: die genauen Kammerlängen habe ich nicht zur Verfügung, daher bitte ich um Entschuldigung, wenn es nicht ganz exakt stimmt). Das erste Drittel der Kennlinie ist deutlich flacher und fluffiger. Kleiner Effekt, große Wirkung. Ganz zum Schluss und rechts im Bild noch ein Ausblick was noch möglich ist, und zwar eine Luftfeder mit einer Negativkammerlänge von rund 80 mm Länge (rote Linie).
Nachdem nun erläutert wurde, welchen Einfluss eine Negativfeder auf die Kennlinie hat, wird wohl sicher noch viele interessieren, welchen Einfluss ein 3-Kammer System, allen voran das AWK von IBC-User chickadeehill aber auch Varianten von Manitou und Co. auf die Kennlinie hat und ob es der einzige Weg ist, eine Luftfeder erst „perfekt“ zu machen. Dafür sind im Folgenden die unterschiedlichen Varianten der oben dargestellten Ausführungen mit und ohne AWK übereinandergestellt. Die Bezeichnung AWK soll hier beispielhaft als Synonym für alle Doppelpositivkammersysteme stehen.
Wir beginnen damit, uns anzuschauen, wie eine AWK bei einem System mit 30 mm langer Negativfeder wirkt. Das entspricht ungefähr dem System einer Pike ohne DebonAir in Verbindung mit AWK. Erwähnen muss man hier noch, dass die gezeigten AWK-Kennlinien nur Möglichkeiten sind. Durch die Vielfalt an Variationen (Kammerlängen und Drücke) lässt sich das System in vielerlei Hinsicht ändern.
Man sieht: Der Buckel am Anfang verschwindet. Der leichte Knick in der Mitte lässt sich bei besserer Abstimmung reduzieren. Das ist nur hier der Tatsache geschuldet, dass es eben von Modell zu Modell wirklich Zeit braucht, um die perfekten Längen und Drücke für das jeweilige System zu bestimmen. Soll heißen: ja, der Knick ist systembedingt, aber bei einem optimiert abgestimmten System weniger schlimm als hier dargestellt. Im Vergleich dazu das System mit DebonAir/Evol Air und AWK.
Man kann erkennen dass die AWK-Kennlinie diesmal weniger von der Ursprungskennlinie abweicht. In dieser Abstimmung ist die Kennlinie ab der 2. Hälfte sogar etwas höher als die ursprüngliche Luftfeder – bei identischer Endkraft. Anders rum gesagt: Beide Lösungen kommen dem Ideal einer linearen Kennlinie mit Endprogression immer näher. Im Bild rechts wollen wir das noch weiter treiben, indem wir die Negativkammer von 50 mm Länge wie beim vorherigen Beispiel auf 80 mm verlängern. Die Unterschiede zur AWK werden nochmal kleiner.
Zu guter letzt wollen wir alle Kennlinien nochmal vergleichen. Und spätestens jetzt wird die Grafik etwas unübersichtlich. Deshalb werde ich den Inhalt textlich nochmal auffangen und die Version mit der kurzen Negativfeder weglassen, da sie praktisch nicht mehr verbaut wird. Es befinden sich also die „perfekte“, lineare Kennlinie, die mit mittellanger Luftnegativfeder (50 mm) sowie die mit langer Luftnegativfeder (80 mm) als auch die AWK-Kennlinie im Diagramm.
Was sehen wir hier: Die 3 Luftfederkennlinien treffen sich an einem Punkt, ganz am Ende. Hier kann man natürlich streiten, weil es Abstimmungssache ist, wie und wo man den Vergleich beginnt, aber für einen Überblick sollte es reichen. Zudem sei gesagt, dass die lineare Kennlinie so gewählt wurde, dass sie grob im Durchschnitt der anderen Kennlinien liegt, um qualitative Unterschiede herauszustellen.
Wir fangen an mit den DebonAir/Evol-Federn. Diese sind zu Beginn deutlich über der linearen Kennlinie. Sie bieten guten Gegenhalt zu Beginn der Federung und hängen dann später in Relation dazu etwas durch. Die Version mit längerer Luftnegativfeder entspricht zu Beginn gemeinsam mit der AWK-Kennlinie sehr genau der linearen Geraden. Erst ab der zweiten Hälfte hebt sich die AWK-Kennlinie und ist nun höher als die Lineare. Die grüne Linie mit der langen Negativkammer bleibt hier auf dem Niveau der Geraden und steigt erst später in die Endprogression.
Die Evaluation lässt viel Freiraum zu. Da wir alle nicht wissen, was das eine Ideal ist, bzw. durch die verschiedenen Vorlieben der Fahrer und die vielen Einstellparameter sehr wahrscheinlich unterschiedliche „Ideale“ existieren, haben alle Systeme ihre Daseinsberechtigung. Die mittel-langen Luftnegativkammer-Systeme bieten zu Beginn starken Gegenhalt, die AWK und lange Negativkammer bieten zu Beginn plüschiges Federverhalten, während letztere dem linearen Vorbild länger die Spur hält und die AWK hingegen später mehr Gegenhalt bietet.
Fazit:
Es ist meiner Meinung nach anzunehmen, dass in den nächsten Jahren Systeme auf den Markt kommen, welche mit eben noch längeren Negativkammern die Gabeln nochmal fluffiger und sensibler machen. Die „MegNeg“-Kammer für Rock Shox geht schon in genau diese Richtung. Natürlich sind der Luftfeder-Entwicklung auch Grenzen gesetzt. Die Positivfeder wird durch jeden Zentimeter mehr an Negativfederlänge um genau einen Zentimeter verkürzt, die Endprogression steigt. Aber lange 29“ Gabeln machen es wiederum möglich, diese Entwicklung ohne Nachteile weiter zu treiben, da die Rohrlängen steigen, ohne an Federweg zuzulegen. Für Systeme mit Doppelpositivkammer (wie AWK) spricht klar die vielfältige Abstimmbarkeit, aber auch der Nachteil des Abstimmaufwandes sowie der erhöhten Reibung durch eine zusätzliche Dichtung.
Wie viel Einstellbarkeit wünscht ihr euch? Oder brummt jetzt einfach nur der Schädel von den ganzen Diagrammen?
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