Irgendwann diesen Sommer war ich in Hamburg – trotz der dort ansässigen Marke Bergamont Bikes ist die Hansestadt nicht unbedingt als Mountainbike-Mekka bekannt. Eine alte Schulfreundin, die dort wohnt, sagte mir aber: Du musst Jurek kennenlernen, er hat 18 Fahrräder. So traf ich mich mit Jurek, und es stellte sich heraus: Er hat deutlich mehr als 18 Fahrräder, zumindest hat er deutlich mehr Teile als für 18 Fahrräder. Allesamt schöne Oldtimer. Was aber meine besondere Aufmerksamkeit auf sich zog: ein Allrad-Bike.

Allrad-Antrieb am Fahrrad heißt ja eigentlich: Zweirad-Antrieb, 2WD, 2X2. Die Argumente dafür sind eigentlich die gleichen wie beim Geländewagen: Wo man mit nur einer angetriebenen Achse durchdreht, können sich zwei Achsen die Arbeit teilen und es lassen sich steilere oder rutschigere Anstiege befahren. Fahrräder haben aber eigentlich nie zwei angetriebene Achsen.

Wahrscheinlich haben die meisten von uns am Mountainbike schon einmal mit einem durchdrehenden Hinterrad zu kämpfen gehabt. Auf Schotter, auf nassem Laub, auf Matsch – kombiniert mit ausreichend Steigung ist irgendwann Schluss. Auch in Uphill-Querungen kann ein durchdrehendes Hinterrad gern mal ein Absteigen bedeuten. Aber wie soll das Drehmoment von der Kurbel ans Vorderrad kommen? Oder noch besser: Vom Hinterrad ans Vorderrad? Denn meist wird ja erst durch die Kettenschaltung die jeweilige Über- oder Untersetzung erreicht.

Als Jurek das Allrad-Bike erwähnt, habe ich sofort aufwendige Ketten und Kardantriebe vor Augen. Irgendwo hab ich so was auch schon mal gesehen. Deshalb bin ich überrascht, als ich das Legacy Mirage sehe. Es sieht aus wie ein ganz klassisches Stahl-Hardtail, an dem jemand einen Duschschlauch montiert hat. Der Duschschlauch verbindet Hinter- und Vorderradnabe und ist in Wahrheit kein Duschschlauch, sondern eine biegsame Welle. Das System ist extrem einfach: Dort, wo heute die Bremsscheibe sitzt, wird über eine Kegelverzahnung Drehmoment abgegriffen. Durch die flexible Welle wird eine identische Kegelverzahnung am Vorderrad angetrieben. Dreht sich das Hinterrad, dreht sich auch das Vorderrad.
Klar, dass ich das Rad fahren muss. Meine Erwartungshaltung: Hohe Reibungsverluste, wahrscheinlich ein hörbares und spürbares Mahlen. Entsprechend überrascht bin ich, als das Legacy unerwartet leicht beschleunigt und rollt. Sicher, ein wenig Energie wird verpuffen – aber ich hatte es mir wirklich schlimmer vorgestellt.
Auffälliger sind die Eigenheiten, die durch die Kopplung der beiden Räder entstehen, obwohl sich im Vorderrad ein Freilauf befindet.
- Wer hinten bremst, bremst auch vorne. Beim Wheelie kann man mit der Hinterradbremse das Vorderrad zum Stehen bringen.
- Wer vorne bremst, bremst auch hinten. Durch die nur mäßig steife Flexwelle knirscht es dabei aber ganz schön in der Verzahnung.
- Durchdrehen wird tatsächlich ziemlich unwahrscheinlich. Dafür müssen Vorder- und Hinterrad gleichzeitig durchdrehen, was schon viel Power und sehr rutschigen Untergrund erfordert.
Heute werden keine Legacy Mirage-Nachfolger mehr produziert. Das System sieht offensichtlich nicht elegant aus, und die offenen Verzahnungen vertragen sich nicht wirklich mit Matsch. Wer glaubt, dass Allrad-Fahrräder aber grundsätzlich nicht mehr existieren, der irrt: Christini verkauft seine – wesentlich aufwendigeren – 2WD-Bikes auch nach vielen Jahren noch. Jurek besitzt natürlich auch ein Christini, es ist aber nicht aufgebaut und daher nicht fahrfähig.


Christini hat die komplizierteste aller Lösungen in seinen – auch noch vollgefederten – Allrad-Mountainbikes verbaut. Mehrere Kardangelenke, Ketten und Kegeltriebe sind nötig, um in Rahmen und Gabel versteckt Drehmoment zu übertragen. Das Unternehmen aus Philadelphia bietet auch Motorräder mit dem gleichen System an, in Sand- und Eiswüsten dieser Welt scheint es Kunden hierfür zu geben. Ein ganz anderer Trend hat aber dazu geführt, dass inzwischen wieder mehr Zweiräder mit Allrad-Antrieb unterwegs sind: Am E-Bike lässt sich durch einen Radnabenmotor vorne unkompliziert ein 2WD-Aufbau realisieren.
Fazit
Allrad am Fahrrad? Braucht es wirklich nur in den wenigsten Momenten. Aber mal ganz ehrlich: Funk-Sattelstütze, elektronische Gangschaltung und ähnliche Entwicklungen "braucht" es eigentlich auch nicht …
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Der Markt hat ja schon lange entschieden … aber wünscht ihr euch trotzdem manchmal den Allrad-Antrieb am Mountainbike?
50 Kommentare
» Alle Kommentare im Forumdie Höhenmeter hab ich nicht überprüft, das war so ausgeschrieben. Es war sehr steil. Die Africa Twin, die voraus gefahren ist, hatte Probleme einen Abstand rauszufahren. Schnitt war bei ca. 45 km/h - das weiß ich noch. Es waren 16 Minuten und 20 Sekunden. Ich wiege nur 65 kg und hatte keinen Rucksack
Ich habe voll mitgetreten, das macht gerade beim Anfahren einen großen Unterschied. Wenn es zu steil ist, muss ich mein Gewicht ganz nach vorne bringen, damit das Vorderrad nicht durchdreht. Leistung kann ich aber individuell programmieren. Drehmoment ist enorm, ich habe noch ein Rad mit 13 kW hinteren Nabenmotor zum Vergleich.
krass, voll das Turbo E-Bike😉
neeeer jez ma ohne schaiz
man könnt mit der DynamoKurbel von Schaeffler Heck und Frontmotor betreiben 💪
Schaeffler Antrieb
ok, bei dem Gesamtwürgegrad könnt mal vll eher schieben,
aber man hätt da was technisches und so überhaupt .....
Heute jammert man über einen verspäteten Flug; die Gebrüder Wright mussten sich vermutlich alleine für die Idee dieser Fortbewegung einiges anhören.
Also, Ball immer flach halten...
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