
Die Kontaktpunkte von Fahrer und Fahrrad entscheiden über Freud oder Leid beim Radfahren. Und weil jede und jeder eine andere Anatomie hat, anders auf dem Rad sitzt und anders damit fährt, ist es häufig trotz großer Auswahl schwierig, eine bequeme Lösung für Sattel, Griffe und Schuhe zu finden. Genau hier könnte Specialized ansetzen und durch individuelle Sättel die Freude am Radfahren vergrößern. Sowohl Specialized als auch Fizik haben sich hierfür mit der Firma Carbon zusammen getan, die das Know-How zu 3D-Druck und Gitterstrukturen beisteuern soll.
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Wie funktioniert’s?
Im Grunde steht man mit individuellen Sätteln vor zwei Herausforderungen: Erstens – wie erstellt man das individuelle Modell, und zweitens: wie stellt man es dann her?
Teil 1: Ein individuelles, virtuelles Sattel-Modell
Normalerweise wird ein Sattel entweder von Hand geshaped und anschließend nachmodelliert, um ein Werkzeug herzustellen, oder er wird direkt am Computer konstruiert und dann damit das Werkzeug produziert. Zum konventionellen Vorgehen hatte ich ja schon vor einiger Zeit etwas geschrieben. Das könnte man natürlich auch für jedes Gesäß individuell machen, aber der Konstruktionsaufwand würde die Preise dafür leider recht schlecht bezahlbar machen.

Die von Carbon (übrigens einer der ungeschickteren Namen am Markt, wenn man mich fragt: „Carbon“ ist ein Start-Up aus dem Silicon Valley, das die „CLIP“ genannte „DLS“-Technologie entwickelt hat und entsprechende Materialien und Anlagen vertreibt, aber dazu später mehr. Früher hieß das Unternehmen wenigstens noch Carbon3d, aber jetzt ist es einfach nur verwirrend.) veröffentlichte Case-Study legt ein anderes, automatisiertes Vorgehen nahe: Aus einer Druckverteilung dürfte automatisiert eine passende CAD-Geometrie erzeugt werden. Man darf sich vorstellen, dass man auf einer Messplatte Probe sitzt, wie man es heute schon in einigen Läden üblich ist. Daraus wird dann nicht nur der Sitzknochenabstand ermittelt, sondern alle Informationen genutzt: Wo ist der größte Druck, wie ist er verteilt?


Je nach Druck wird dann die Gitterstruktur engmaschiger oder weiter, mit dickeren oder dünneren Balken gestaltet. Gleichzeitig sollen die Zellstrukturen teilweise so ausgelegt sein, dass sie maximal Energie aufnehmen (eher dämpfen) oder zurückgeben (eher federn). Man sei überrascht gewesen, dass größere Dämpfung nicht unbedingt einen größeren Komfort bedeute, heißt es in der Veröffentlichung. Man darf sich also vorstellen, dass die 14.000 Balken im Inneren des Sattels je nach ermitteltem Druck skaliert und verschoben werden, sodass sich eine individuelle Geometrie ergibt. Spannend wird es dann, wie beispielsweise mit den Lüftungsöffnungen und der Hüllgeometrie umgegangen wird – es ist nicht zu viel gesagt, dass diese automatisierte 3D-Konstruktion eine der größeren Herausforderungen an der ganzen Geschichte darstellt. Dass sich die komplexe, dreidimensionale Gitterstruktur überhaupt herstellen lässt, ist ein Vorzug des 3D-Drucks.


Durch gezielt variierte Rauheit der Oberfläche des Sattels soll sich eine optimale Bewegungsfreiheit und Grip auf dem Sattel einstellen.
Teil 2: Ein individuelles Sattel-Modell herstellen
Bei der Individualteil-Herstellung kommt der nächste Vorzug des 3D-Drucks zum Vorschein. Weil kein Werkzeug verwendet wird, das immer die gleiche Form hat, ist es einer Carbon-Anlage grundsätzlich egal, ob sie immer das gleiche oder nur unterschiedliche Bauteile produziert.

Um eine oder mehrere Satteldecken zu produzieren, wird das Modell virtuell in viele dünne Schichten zerschnitten. Das eint alle additiven Herstellungsverfahren: Es wird Schicht für Schicht aufgebaut, was auch komplexe Geometrie erlaubt. In die Maschine wird zunächst ein lichtaushärtendes Harz in die Wanne eingefüllt und dann die Bauplattform bis fast an die transparente Membran auf der Unterseite der Wanne gefahren. Unterhalb sitzt vereinfacht gesagt ein „Beamer“, der auf der Fläche der Bauplattform jeden Punkt entweder belichten oder nicht belichten kann. Der „Beamer“ zeigt also einfach eine Schnittfläche nach der anderen an, und wo er einen Bauteilschnitt zeigt, härtet dieser zum Bauteil aus. Dann wird die Platte einen Hauch höher gefahren und die nächste Schicht ausgehärtet.
Das Besondere an der Technologie von Carbon: Einerseits wird eine ganze Schicht auf einmal bearbeitet (und nicht wie bei vielen anderen 3D-Druck-Technologien eine Schicht mühsam mit einer Düse oder einem Laser schraffiert), andererseits ist zwischen den Schichten kein Hub aus dem Harzbecken nötig. Hier spielt die Chemie eine wichtige Rolle; denn damit das Bauteil durch den Beamer nicht an der Unterseite der Wanne festgeklebt wird, kann die Reaktion von Harz unter Lichteinwirkung nur in Abwesenheit von Sauerstoff stattfinden. Durch die Membran findet sich aber eine mit Sauerstoff angereicherte Schicht darüber, die so genannte Dead-Zone. Die Reaktion findet dann erst minimal über der Membran statt, wodurch Carbon die Bauplattform fast kontinuierlich aus dem Harz ziehen kann. Diesen Vorgang sollen die beiden Namen „Continous Liquid Interphase Production, kurz CLIP“ und „Digital Light Synthesis, kurz DLS“ beschreiben.

Nach dem eigentlichen „3D-Druck“ müssen die Satteldecken dann noch von der Platte getrennt, gereinigt und nachvernetzt werden – in einem Ofen wachsen die Polymer-Ketten und die finalen Eigenschaften stellen sich ein. Damit wäre die Satteldecke fertig. Fehlt noch das Gestell – dieses wird freilich nicht aus elastischem Polyurethan hergestellt, wir gehen eher von faserverstärktem Kunststoff aus. Bei Fizik gibt es hier zwei verschiedene Schalen in unterschiedlicher Breite; bei Specialized gibt es hierzu noch keinen Kommentar – ob tatsächlich nur eine individuelle Satteldecke auf dem immer gleichen Grundgerüst montiert wird, ist derzeit noch nicht bekannt.

Specialized und Fizik sind übrigens nicht die ersten, die auf die Technologie von Carbon aufmerksam geworden sind: Auch Adidas stellt die Sohlen seiner Futurecraft 4D Sneaker auf den amerikanischen Anlagen her. Individuell ist hier aber – bisher – gar nichts: Die Sneaker werden nicht an den Fuß des Käufers angepasst. Hohe Sammlerwerte erzielen die ständig ausverkauften Teile trotzdem – der Verkaufspreis von 299 € wird aus zweiter Hand zuverlässig überschritten und reicht teilweise in den vierstelligen Bereich. Hinsichtlich der Markteinführung will Fizik schon ein wenig weiter sein als Specialized und hat die Sättel für Ende 2019 angekündigt. Das genaue Vorgehen zur Individualisierung wurde aber noch nicht bekannt gegeben. Bei Specialized soll es in 2020 so weit sein.
Was kommt dabei raus?
Im Gegensatz zu normalem Sattelschaum ist die Gitterstruktur des S-Works Power with Mirror Technology offenporig. Das bedeutet, dass theoretisch viel mehr Luft hindurch strömen kann. Das dürfte aber nicht der große Vorteil sein – spannend ist dagegen, ob die angepasste Härteverteilung tatsächlich einen viel besseren Komfort bedeutet. Davon wird man sich frühestens ab 2020 einen Eindruck verschaffen können. Wir sind bereit, uns vermessen zu lassen und ein neues Level des Sitzkomfort zu erreichen – denn bisher hat auch der bequemste Sattel irgendwann irgendwo irgendwie gedrückt. Was der Spaß dann kostet? Warten wir es ab – teuerer als der 263 € kostende, aktuelle Specialized S-Works Power wird es aber ziemlich sicher …
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6 Kommentare
» Alle Kommentare im ForumDie offene Struktur stelle ich mir in der Praxis auch schwierig vor; aber mit einem dünnen Bezugsstoff könnte das trotzdem funktionieren.
Noch interessanter als einen 3D gedruckten Sattel fände ich allerdings einen 3D-gedruckten Helm. Köpfe sind mindestens genauso unterschiedlich wie Ä.... und vermutlich würde ein perfekt passender Helm mehr Zugewinn an Sicherheit bringen als Mips&Co. Die derzeit bei Helmen übliche Anpassung über Schaumstoffeinsätze, Bänder und Gurte scheint mir nicht optimal zu sein. Eine Wabenstruktur ist außerdem hinsichtlich Gewicht/Schutzwirkung prinzipiell auch Interessant. Man kann das ja mit einer geschlossenen Oberfläche kombinieren; könnte mir auch gut eine Kombination aus individuell angepasster Innenschale und genormter Außenschale vorstellen, die dann verklebt werden. Weiß jemand, ob es bereits Versuche in diese Richtung gibt?
Klingt kompliziert und teuer. Bei Skistiefeln wurde ja schon vor 40 Jahren mit Schaum gearbeitet, der beim Kauf direkt dem Fuß angepasst wird. War nicht immer so toll, weil sich Fußformen ändern und es dann dennoch drückte. Der beste Skischuh den ich je hatte, war der Fischer Vacuum. Dort wird die Schale an die Fußform angepasst und der Innenschuh ist sehr hart. Klingt erstmal nicht bequem, ist es aber. Einziges Manko, der hohe Preis und an/ausziehen ist sehr mühsam. Auf Fahrradsättel übertragen, könnte ich mir vorstellen, das eine einfache Anpassung der Sattelform, ähnlich wie beim Fischer Skischuh, deutlich preisgünstiger und effektiver wäre.
Der Vergleich mit dem Fuß hinkt aber ein wenig.

Füße, Nasen und Ohren wachsen weiter bzw. verändern sich doch stark.
Der Arsch bleibt. Naja zumindest halbwegs und länger gleich.
Ist in unserem Indiviualisierungswahn aber sicher der logische nächste Schritt.
Interessant allemal.
Für mich persönlich aber nur fürs Race Bike oder XC MTB interessant.
Enduro fahr ich zumeist stehenderweise und für den Uphill genügt mir ein ordentlich passendes Rundstück.
Coole technik ist es allemal, einiges Potenzial hat sie. Man merkt der Beschreibung aber auch an dass die Verwendung für Sättel noch in einer frühen Phase steckt und viele Herausforderungen noch nicht gelöst sind, wie z.b. die automatische Entwicklung von passenden Sattelstrukturen aus den Messwerten.
@Velophil74 So ein Helm wäre mal wirklich genial, dafür wäre ich eher Kunde als für einen gedruckten Sattel.
stelle mir die offene Struktur beim MTb spannend vor. Erst gut belüftet, nach wenigen Kilometern komplett verschlammt. Schon die Sättel mit Schlitz im Dammbereich sind bei Regen nach wenigen Metern ein feuchtes Vergnügen ;-)
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