
Tatsächlich sammelten auch wir unsere ersten „Plus“-Erfahrungen auf umgebauten 29“-Bikes. Die Idee ist verlockend: Ein Bike, zwei verschiedene Charaktere. Im Winter mit den dicken Reifen trainieren, im Sommer mit den schmalen, großen beim Rennen antreten; die Varianten sind unendlich. Stets war die Botschaft aber: Egal welche Laufradgröße, die Geometrie ändert sich (fast) nicht, allein die Reifenbreite und das Fahrverhalten. Dann kam Ibis auf den Plan und stellte sein Mojo HD-3 vor. Die Kalifornier propagierten nun: 27,5“ sind mit 27,5+ austauschbar, ohne dass sich die Geometrie ändern würde. Ab da war klar, es gibt drei Möglichkeiten: Ibis liegt richtig, der Rest der Branche liegt richtig, oder die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen.

Dass es diese Verwirrung gibt, liegt zunächst einmal an unterschiedlichen Herangehensweisen: Als 650+ vorgestellt wurde, wurde zunächst über den Außendurchmesser gesprochen, und über die Breite. Verständlich, schließlich sollten die dicken Reifen irgendwie durch Rahmen und Gabel passen. Betrachtet man den – unbelasteten – Außendurchmesser, so liegen Reifen mit 2,8“ – 3,25“ auf einer 584 mm Felge (das sind die sogenannten 27,5“) bei etwa 710 – 730 mm. Die Unterschiede sind tatsächlich erheblich, weil die Reifen (mal wieder) wahnsinnig unterschiedlich breit ausfallen und zusätzlich mit ziemlich unterschiedlich breiten Felgen kombiniert werden. Damit reichen die Reifen beinahe an 29“ heran, hier werden typischerweise 2,2“ – 2,4“ Reifen auf einer 622 mm Felge verwendet, was dann wiederum 730 – 740 mm Außendurchmesser ergibt. Hier setzt die Logik an: Ein dicker 27,5+ erreicht unbelastet den Außendurchmesser eines dünnen 29“ Reifen, solange also eine ausreichende Reifenfreiheit vorhanden ist, passt beides! Von diesem Umstand haben übrigens die Federgabelhersteller besonders fleißig Gebrauch gemacht, aber dazu später mehr.
Inzwischen sind aber zwei Dinge offensichtlich geworden:
- Kaum einer fährt die dicksten Plus-Reifen, stattdessen haben sich 2,8“ als das beliebteste Kaliber etabliert.
- Die dicken Reifen werden mit deutlich geringerem Druck gefahren, wodurch sie mehr walken als schmalere Reifen.

Hier setzt Ibis an, argumentiert: Der Durchmesserunterschied im unbelasteten Zustand wird durch das unterschiedliche Walken genau kompensiert. Damit wäre die Höhe des Tretlagers, ja, die gesamte Geometrie im Fahrbetrieb, dieselbe, egal ob man 27,5“ oder 27,5+ fährt. Das würde aber auch bedeuten, dass beim Wechsel von 27,5+ auf 29“ sehr wohl ein Unterschied auftreten müsste, und zwar einer, der genau so groß ist, wie bei 27,5“ zu 29“. Kein Mensch würde auf die Idee kommen, in einem 29“-Bike 27,5“ Räder zu fahren (es sei denn, es ist Matsch bei der Megavalanche, aber das ist eine andere Geschichte). Der Grund ist klar: Der Unterschied zwischen den Raddurchmessern beträgt 38 mm, die Tretlagerhöhe ändert sich um fast 2 cm, das ist ein Unterschied wie Tag und Nacht oder: Der Unterschied zwischen Pedalierflow und Kurbelaufsetzstakkato.

Um die Sachlage zu klären, haben wir eben dieses Ibis Mojo HD-3 rangeschafft, mit zwei Laufradsätzen, und haben nachgemessen. Das Messen der Tretlagerhöhe mit Fahrer auf Fahrrad ist keine ganz leichte Übung, schließlich ändert sie sich abhängig von der Fahrerposition und dem Untergrund, aber: Wir haben Ergebnisse, denen wir auf +/-2 mm trauen; eine genauere Angabe wäre nur mit großem Aufwand möglich, aber auch für die eigentliche Aussage nicht nötig. Wir verwendeten die Luftdrücke, die wir auch tatsächlich mit den jeweiligen Reifengrößen fahren: 0,95/1,05 Bar bei den 2,8″-Reifen und 1,3/1,4 Bar bei den 2,35″-Reifen.

Das Ergebnis: Im unbelasteten Zustand beträgt der Unterschied der Tretlagerhöhen 6 mm. Das wäre ein spürbarer Unterschied, aber kein gravierender. Mit Fahrergewicht belastet verschwindet dieser Unterschied vollständig, die Tretlagerhöhe liegt bei jeweils 279 mm. Das bedeutet: 27,5“ und 27,5+ sind ohne Geometrieänderung austauschbar, wenn folgende Bedingungen gelten: Ähnliche Felgenbreite und eher schmale Plus-Reifen. Konkret haben wir jeweils Schwalbe Nobby Nic in 2,35“ und 2,8“ verwendet, mit dem jeweils sinnvollen Reifendruck und dem identischen Druck in den Federelementen. Die Dämpfung der Federelemente passen wir beim Wechsel von Plus auf Nicht-Plus an, dies wirkt sich aber auf den Sag im statischen Zustand gar nicht und während der Fahrt so gut wie gar nicht aus, da es sich hier wirklich um Feinheiten handelt.


Gibt es überhaupt einen Fall, in dem 27,5+ und 29“ ohne Geometrieänderung austauschbar sind? In der Praxis nicht. Zwar sind bezüglich des belasteten Außendurchmessers 29“ x 1,9“ fast identisch zu 27,5“ x 3,0“; aber wer würde diese beiden, extrem unterschiedlichen Radgrößen fahren wollen? Klar ist auch, dass sich mit der Felge spielen lässt, hier kann aber kaum ein Unterschied größer als wenige Millimeter entstehen. Folglich ist die Verwendung von 27,5+ in 29“ Bikes nicht sinnvoll, es sei denn, man ist genau auf die Geometrieänderung aus; etwa, weil man einen 29-er mit zu hohem Tretlager gern tieferlegen würde…
Hier dürften sich jetzt die Besitzer von Bikes, die für 27,5+ und 29“ beworben werden, fragen: Was soll der Quatsch? Tatsächlich kann man natürlich in solchen Bikes beide Laufradmaße fahren, nur eben mit unterschiedlichen Geometrien. Wenn beide Spaß machen: Super! Aber höchstwahrscheinlich setzt man mit den dickeren Reifen viel häufiger auf.

Die große Frage ist aber auch: Wer tauscht denn überhaupt seine Laufräder? Der Wechsel ist entweder teuer, weil man tatsächlich zwei vollständige Laufradsätze mit Bremsscheiben und Kassette besitzt, oder zeitaufwändig: Neben dem eigentlichen Rad Ein- und Ausbau müssen dann auch noch die Bremsscheiben und die Kassette gewechselt werden, häufig müssen sogar die Bremsen neu ausgerichtet werden, weil auch die Naben Toleranzen aufweisen. Und auch hier könnte man die Ibis-Lösung bevorzugen: Wenn sich der Felgendurchmesser nicht ändert, werden gar keine zwei Laufradsätze benötigt – der Wechsel zwischen „Plus“ und „Normal“ wird hiermit zum einfachen Reifenwechel, der nur im Falle von Tubeless etwas unangenehm laufen kann.
Kommen wir nochmals auf die Federgabeln zurück: Als 27,5+ vorgestellt wurde, ließen die passenden Gabeln mit Boost-Standard nicht lange auf sich warten. Aber: Es handelte sich dabei um ein einzelnes Modell, welches für 27,5+ und 29“ passte. Meist blieb die schmalere 29“-Gabel mit 100 mm Einbaubreite noch im Programm. Jetzt, 2017, werden neue Gabelgenerationen vorgestellt. Bei Rock Shox sind die 100 mm / 29“ Varianten jetzt aus dem Sortiment geflogen, stattdessen gibt es die folgenden zwei Varianten: 27,5“ und 29“. Welche davon ist für 27,5+ gedacht? Es ist die 27,5“-Gabel. Zufall? Kaum – es hat einfach nur etwas gedauert, bis die Sache mit dem „+“ realistisch betrachtet wurde.
Fazit:
Wer Plus und konventionelle Reifen in einem Bike fahren möchte, verwendet am besten einen 27,5″ Laufradsatz mit breiter Felge. Das ist nicht nur billiger, sondern auch hinsichtlich der Geometrie die bessere Entscheidung. Das bedeutet übrigens auch: Mixen ausdrücklich ohne große Konsequenzen möglich!
250 Kommentare
» Alle Kommentare im ForumWarum habe ich da bloß sofort an die Typen von "New Kids Turbo" gedacht?
Wird schwierig, alleine anhand der nachgemessenen Geometriedaten verbindlich festzulegen, was sich der Konstrukteur bezüglich der Laufradgröße gedacht hat.
Es gibt ja keine fixen Regeln, auf welcher Höhe etwa das Tretlager bei welcher Laufradgröße zu sitzen hat. Je nach Hersteller und je nach Modelljahr kann das ja ganz schön variieren, und zwar so stark, dass eine saubere Abgrenzung zwischen den Laufradgrößen nicht mehr möglich ist.
M. E. ließe allenfalls eine große Reifenfreiheit an der Stelle, an der der B+-Reifen seine dicke Ausbuchtung hätte, darauf schließen, dass wohl eher B+ angedacht war. Insofern würde ich einfach mal einen B+-LRS reinhängen und schauen, wie es aussieht.
Höheres Tretlager bedeutet im positiven Sinne, dass man mehr Bodenfreiheit hat und nicht so schnell aufsetzt. Negativ ist, dass man nicht so zentriert im Rad sitzt und eher Überschlagsgefühle aufkommen.
Wie stark sich das bemerkbar macht, hängt wohl wiederum vom eigenen Empfinden und befahrenen Terrain ab.
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Lässt sich pauschal schwer sagen.
Da spielt viel rein (BB-Drop/-Höhe, Sitz- und Lenkwinkel, etc.). Aber wenn der Rahmen dafür ausgelegt ist, wird kein Maß ins extreme abdriften und somit wird es schwierig herauszufinden was sich der Erfinder dabei gedacht hat.
Um welchen Rahmen geht es? Kannst du mal die Geotabelle und/oder den Herstellerlink posten?
... wegen dem beschriebenem wird es hierzu auch keine allgemeine Literatur geben. Es hängt an dem individuell gefertigten Rahmen.
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