Jetzt, wo die Nächte lang und die Tage kurz sind, ist die richtige Zeit, um vom Bright Midnight zu träumen. Das Ultracycling-Event findet in Norwegen an den nicht enden wollenden Juli-Tagen statt. So werden die meisten der 1.040 km mit 16.000 hm im Hellen abgespult. Nathalie Schneitter hat sich an die Strecke gewagt und berichtet.
Bright Midnight 2023 – der Bericht
Wann und wo mich der Ultracycling-Virus erwischte, kann ich rückwirkend nicht mehr eruieren. Aber spätestens seit meiner erfolgreichen Premiere beim Dead Ends e dolci Ende April, bin ich akut befallen. Das „Bright Midnight“ in Norwegen soll der Höhepunkt meines Ultra-Jahres 2023 werden. 1.040 Kilometer mit 16.000 Höhenmeter, dies die Eckdaten dieser Herausforderung. Start und Ziel liegen in Tolga, einem winzigen Dorf in Norwegens Nirgendwo.
Das bedeutet, dass kaum im Dunkeln pedaliert werden muss und garantiert, dass man mehr von der Landschaft miterleben kann.
Per Zug erreiche ich es vom Flughafen Oslo nach 4 Stunden und nur einmaligem Umsteigen und werde am Bahnhof freundlich von einer Gruppe Schweizer begrüßt. Die Ultra-Szene empfängt mich herzlich, obwohl ich nur einen in der Gruppe kenne. Zahlreiche Schweizer und Deutsche haben es nach Tolga an den Start des Bright Midnight geschafft, anscheinend trifft das Rennen genau unser Gusto. Denn nebst der Herausforderung und der einmaligen Landschaft, lockt auch der Fakt, dass Norwegen ein sicheres Land ist und es im Sommer nie richtig dunkel wird. Das bedeutet, dass kaum im Dunkeln pedaliert werden muss und garantiert, dass man mehr von der Landschaft miterleben kann.
Der Startschuss fällt um 9 Uhr morgens. 300 Teilnehmende stehen am Start auf dem Parkplatz des Supermarktes in Tolga, davon rund 10 % Frauen. Ich schaue mich um und denke: Boah, haben die Jungs krasse Beine. Natürlich nicht alle, denn das Schöne an diesen Ultra-Events ist, dass Racer- und Freizeitfahrerinnen auf „Party Pace“ zusammen am Start stehen. Und so sieht man alles: Diejenigen, die nur das Allernötigste dabeihaben, und diejenigen, welche vollgepackt mit Zelt, Gaskocher und Bialetti davonziehen. Doch die Ansammlung von männlichen Mitbewerbern, die als Cycling Top-Models durchgehen, schüchtert mich etwas ein. Bin ich für die Challenge gewappnet, was mache ich hier, kann ich das überhaupt?
Doch Zeit zum Grübeln bleibt keine, denn schon geht’s los und sobald ich in die Pedale treten kann, verschwinden auch meine Zweifel. Ich bin ganz hinten im Feld eingestanden und arbeite mich jetzt sukzessive nach vorn. Über 1.000 Kilometer!!! Was für eine Pace fährt man bei sowas überhaupt? Ich fahre ein zügiges Grundlagentempo und lasse mich nicht beirren, wenn zwischenzeitlich wieder mal jemand an mir vorbeisprintet.
Hügelige Kies-Straßen, die fast wie Asphalt rollen, wenig Verkehr und an jeder Ecke einladende Fotostopps.
Die Kiesstraßen Norwegens entpuppen sich gleich zu Beginn als Gravel-Traum. Hügelige Kiesstraßen, die fast wie Asphalt rollen, wenig Verkehr und an jeder Ecke einladende Fotostopps. Ich bin aber auf einer Mission, und die Eindrücke speichere ich mir deshalb im Herzen, anstatt auf einer Kamera. Das Tempo ist höher, als ich angenommen hatte und ich komme in den ersten Stunden schnell vorwärts und dies, obwohl es bereits einige Flussquerungen gab und ich schnell nasse Füße hatte. Das viele Wasser hat aber auch seine Vorteile: Es scheint unbedenklich zu sein, in Norwegen aus den unzähligen Bächlein zu trinken. Die Wasserversorgung stellt somit bei den unerwartet heißen Temperaturen um die 30° Celsius kein Problem dar.
Ich schaffe die ersten 155 Kilometer bis Oppdal, dem ersten Dorf mit Verpflegungsmöglichkeit, in 7 Stunden und entscheide mich, bereits beim Dorfeingang bei einer Tankstelle zu stoppen, um den Zwischenhalt so kurz wie möglich zu halten. Ich kaufe salzige Chips, ein Stück Pizza und Haribo und will schon weiterziehen, als mir einfällt, dass ich noch die Kette schmieren und eine Salzkapsel in die Trinkflasche mixen sollte. Ich fühle mich wie auf der Flucht, und doch ist mir bewusst: Ultracycling-Rennen werden nicht in den ersten Stunden gewonnen. Ich will zwar meine Stoppzeit so klein wie möglich halten, aber für essenzielle Sachen will und muss ich mir Zeit nehmen.
Die Jungs kicken in die kleinen Hügel rein und ich weiß, dass ich einen solchen Fahrstil später büßen werde. Ich muss mein eigenes Ding machen und beim Pacing tief in mich reinhorchen.
Nach Oppdal wird meine Durchschnittsgeschwindigkeit drastisch reduziert. Ich fühle mich zwar gut, aber eine 3,5 Kilometer lange Hike-a-Bike-Passage will nicht enden und mit der einsetzenden Müdigkeit stoppe ich auf meinem Garmin aus Versehen die Navigation. Nach einigen nervigen Minuten (oder waren es doch nur Sekunden?) bin ich back on track. Doch durch die Hitze kriege ich langsam Kopfschmerzen und irgendwie komme ich einfach nicht vom Fleck. Um mich hat es einige andere Mitbewerber, das vereinfacht die Navigation, aber nicht unbedingt das Pacing. Die Jungs kicken in die kleinen Hügel rein und ich weiß, dass ich einen solchen Fahrstil später büßen werde. Ich muss mein eigenes Ding machen und beim Pacing tief in mich reinhorchen.
Nach ziemlich genau 12 Stunden erreiche ich Sunndalsora (Kilometer 234) und die Segel stehen auf halbmast. Die Kopfschmerzen werden immer stärker, mein Magen fühlt sich an, als ob er sich bald entleeren möchte und Hunger habe ich keinen, obwohl ich schon viel zu lange nichts mehr gegessen habe. Ich knall mir eine Cola rein und eine weitere Salzkapsel, ziehe Helm und Schuhe aus und lege mich in den Schatten eines Baumes für einen Powernap. Den Wecker stelle ich auf 15 Minuten. Nach zehn Minuten bin ich wach und ready to go. Manchmal wirken kleine Pausen tatsächlich Wunder. Ich fahre weiter und eine Stunde später kommt auch mein Appetit zurück. Ich fühle mich gut und dank der einbrechenden Nacht werden auch die Temperaturen angenehmer. Licht brauche ich keines, während ich mich über eine wunderbare Hochebene bewege und der Mond aufgeht.
Licht brauche ich keines, während ich mich über eine wunderbare Hochebene bewege und der Mond aufgeht.
Vor dem Rennen habe ich mir Plan A, B und C zurechtgelegt. Ich mag Pläne und ich mag Strategien. Zudem ist es wichtig für mich, Etappenziele zu haben, also beispielsweise mir verbindlich zu überlegen, bis wohin ich an diesem ersten Renntag fahren will. Plan A beinhaltet, dass ich bis Kilometer 355 durchziehe. Plan B wäre eine Schlafpause nach bereits 300 Kilometer. Obwohl Beine und der Kopf müde sind, ziehe ich Plan A durch. Ich erreiche Vitsdal nach 5.110 Höhenmetern um 2:30 Uhr nachts und nutze den Campingplatz, um meine Socken und Schuhe zu putzen und kalt zu duschen. Obwohl ich sehr müde bin, weiß ich, dass die Hygiene-Routine unerlässlich ist. Denn wenn das Salz des Schwitzens kristallisiert, dann fühlt sich das an wie Sitzen auf Schmirgelpapier. Deshalb muss ich unbedingt meinen Hintern und auch die Hose desinfizieren, dann den Hintern mit Zinksalbe behandeln und noch meine Zähne putzen. Ich lege mich in meinem Schlafsack auf den Boden des Duschraumes und Glück erfüllt mich: Hier hat es tatsächlich Bodenheizung!
Nach 3,5 Stunden geht der Wecker und ich bin hellwach. Ruckzuck wird die Zinkcreme wieder weggeputzt, Sitzcreme eingestrichen, die Bidons gefüllt und schon sitze ich wieder im Sattel. Als ich weiterfahre, ist es kurz vor 7 Uhr morgens. Dank meiner minutiösen Vorbereitung weiß ich, dass nach wenigen Kilometern bereits ein 24h-Selfcheckout-Supermarkt kommt. Die Auswahl ist bescheiden, aber dank Fruchtsaft, Schokomilch und Schokoladenbrötchen fühlt es sich tatsächlich wie Frühstück an. Mit vollem Mund checke ich auf dem Handy das Live-Tracking. Vor meinem „langen“ Schlafstopp war ich in den Top-10 des Rennens. Während ich schlief, haben mich rund 30 Fahrer*innen überholt. Ich bin zwar darauf vorbereitet, dass mich meine Strategie zeitweise weit zurückfallen lassen wird und viel mentale Kraft fordert, doch trotzdem werde ich etwas nervös und frage mich, ob meine Schlafpause zu früh oder zu lang war. Ich zwinge mich, das Grübelmonster zu verscheuchen und auf meine Strategie zu vertrauen. Ich fahre weiter und langsam, aber stetig hole ich die anderen Teilnehmenden wieder ein.
Doch die schlechte Laune ist schnell vergessen, als ich in den Aufstieg „Trollstigen“ reinfahre. Ein Traum einer Straße, der mir zwar einiges abfordert, mich aber trotzdem ins Märchenland abtauchen lässt.
Mein nächstes Zwischenziel ist die Fähre nach Eidsdal. Sie geht alle 13 Minuten und ich freue mich auf einen Kaffee. Den Kaffee vor Augen kann ich ein gutes Tempo anschlagen, verpasse aber leider eine Abzweigung und mache dadurch ein paar Kilometer zu viel. Als ich mein Malheur bemerke, ärgere ich mich tierisch über die Unachtsamkeit, weiß aber, dass ich nichts anderes machen kann, als drehen und genau da auf die Route zurückzukehren, wo ich sie verlassen habe. Doch die schlechte Laune ist schnell vergessen, als ich in den Aufstieg «Trollstigen» reinfahre. Ein Traum einer Straße, der mir zwar einiges abfordert, mich aber trotzdem ins Märchenland abtauchen lässt.
Als ich die Fähre erreiche, bin ich froh um den Kaffee und gleichzeitig enttäuscht, dass es keine frischen Brötchen gibt. Ich entscheide mich, ein Twix zu essen und plane in Geiranger bei Kilometer 500 einen etwas ausgiebigeren Stopp einzulegen. Essen bei extremen Ausdauerbelastungen ist wie Holz bei einem Feuer: Damit das Feuer nicht erlischt, muss man immer mal wieder Holz nachschieben. Das heißt für mich: regelmäßig essen! Zu viel Zucker tut mir dabei nicht gut und Lust habe ich vor allem auf Salziges, deshalb versuche ich so viel „normale“ Nahrung wie möglich zu mir zu nehmen. Auf Gels verzichte ich gänzlich, nur Schokoriegel und Haribo gibt’s zwischendurch. Der Aufstieg von der Fähre in Richtung Geiranger hat es in sich, aber vielleicht brauche ich tatsächlich einfach mal etwas Richtiges zwischen die Zähne. Ich kämpfe mich rauf und als ich in die Abfahrt steche, öffnet sich die Sicht und ich blicke über den ganzen Fjord von Geiranger. In solchen Momenten des Glücks sind alle Strapazen vergessen.
In Geiranger gönne ich mir eine Packung Himbeeren, eine ganze Packung Babybell und zwei Vollkornbrötchen. Ich kaufe auch eine Banane und zwei Snickers, die stecke ich jedoch ein. 20 Minuten Pause gönne ich mir in etwa, bevor ich die längste Steigung des Rennens in Angriff nehme. Von Geiranger, das auf Meeresniveau liegt, steigt die Straße bis Dalsnibba auf 1.450 Meter über Meer. Dalsnibba ist ein bekannter Aussichtspunkt für Touristen, mit Blick über den ganzen Fjord und im Bright Midnight ist er ein Checkpoint, der angefahren werden muss, obwohl die Straße eine Sackgasse ist. In der langen Steigung hole ich einige Mitbewerber ein und diejenigen, die noch keine Schlafpause eingelegt haben, sehen alles andere als frisch aus. Als ich mich auf den letzten zweihundert Höhenmetern in der Sackgasse raufkämpfe, kommt mir Linda entgegen, die zu diesem Zeitpunkt führende Frau. Ich rechne aus, dass sie 25 Minuten vor mir sein muss, und das motiviert mich enorm. Ich weiß, dass Linda zu diesem Zeitpunkt noch keine Schlafpause gemacht hat (das verrät das Live-Tracking) und ich bin mir sicher, dass auch sie bald schlafen muss. Mit neuer Energie kämpfe ich mich zum Checkpoint Dalsnibba. Mittlerweile hat das Wetter umgeschlagen und es fallen erste Tropfen. Ich habe jedoch Glück und bin dem Regen immer etwas voraus. Warm anziehen muss ich mich trotzdem, der Temperaturunterschied zum Vortag ist extrem. Von Kappe über Handschuhe, Schuhüberzüge, Primaloftjacke ziehe ich alles an das ich dabeihabe und ich bin dankbar, dass ich dank meinen Partnern auf die besten Produkte überhaupt zurückgreifen kann.
Als ich um 1:30 Uhr morgens die Augen schließe, habe ich den Wecker auf 4:00 Uhr gestellt. Regen kommt und ich will es trocken über die nächste Hochebene schaffen.
Mit Linda vor meinem inneren Auge ziehe ich durch bis zum Supermarkt in Donfoss bei Kilometer 580, doch leider finde ich hier nichts zu essen, das mich durch die Nacht bringt, deshalb fahre ich bis Kilometer 600 nach Bismo weiter und gönne mir an der Tankstelle eine grosse Pizza. Hier sehe ich, dass Linda in einem Hotel untergekommen ist und wohl gerade tief und fest schläft. Mir wäre auch nach Schlafen zumute, doch mein Tagesziel ist noch 80 km entfernt. Mit der Pizza im Bauch pedaliert es sich nicht mehr ganz flott, denn mein Körper braucht nun viel Energie zum Verdauen. Kurz darauf verfahre ich mich erneut und verprasse wahrscheinlich rund 20 Minuten, die ich lieber in Schlaf investiert hätte. Tapfer halte ich mich aber an Plan A und fahre weiter bis nach Vollheim bei Kilometer 680. Nach total 11.230 Höhenmetern nutze ich wieder den Waschraum eines Campings für meine Hygiene-Pflichten und lege mich in den Schlafsack. Bevor ich einschlafe, checke ich noch das Wetter. Als ich um 1:30 Uhr morgens die Augen schließe, habe ich den Wecker auf 4:00 Uhr gestellt. Regen kommt und ich will es trocken über die nächste Hochebene schaffen.
Nach knapp 2 Stunden Schlaf kämpfe ich mich wieder aus dem Schlafsack und fahre weiter. Hunger habe ich längst keinen mehr, essen sollte ich trotzdem. Zum Glück weiß ich nicht, was mich an dem gerade anbrechenden Tag noch erwarten wird. Ich bin ganz im Hier und Jetzt und arbeite mich vorwärts in Richtung des Grimdalsmyrene Naturreservats. Auf rund 1.000 Meter überm Meer führt eine perfekte Kiesstraße über die Hochebene und würde mir nicht ein bissiger Gegenwind ins Gesicht blasen, könnte ich es wahrscheinlich sogar genießen. Nach 6 Stunden radeln lege ich morgens um 10 einen Powernap ein. Es ist zwar bissig kalt, aber in meinem Schlafsack kann ich trotzdem ein paar Minuten Schlaf finden, die Schuhe ziehe ich aus, der Helm bleibt an. Die 15 Minuten wirken Wunder und relativ frisch kann ich die ruppige Abfahrt nach Alvdal in Angriff nehmen. Müde Augen bedeuten langsame Reflexe und eine hohe Sturzgefahr, ich bin froh, dass ich einigermaßen frisch für die anspruchsvolle Abfahrt bin. 780 Kilometer habe ich nun schon in den Beinen. Es fühlt sich für mich an, als ob nur noch der Schlussspurt bevorsteht. Lächerlich natürlich, wenn noch 260 Kilometer verbleiben. Ich decke mich in Alvadal nochmals ein mit Himbeeren und zwei Sandwiches und weiß zu diesem Zeitpunkt nicht, dass es bis zur Ziellinie in Tolga die letzte Möglichkeit sein wird, um Proviant zu kaufen.
Nach 780 km: Es regnet und regnet und trotz meiner Regenjacke und den kurzen Regenhosen, bin ich bald durch und durch nass.
Im Supermarkt treffe ich einen anderen Rennfahrer und wir kommen kurz ins Gespräch. Er erzählt mir, dass er bisher gar nicht geschlafen hat und genau so wirkt er auch. Ich bin froh, dass ich mich für eine andere Renn-Strategie entschieden habe und hoffe nicht ganz so verwirrt zu wirken wie er. Kurz darauf fahre ich weiter und konzentriere mich wieder auf mich selbst.
Das ist auch nötig, denn nach nur wenigen Minuten kommt der Regen. Es regnet und regnet und trotz meiner Regenjacke und den kurzen Regenhosen, bin ich bald durch und durch nass. Kalt habe ich es zum Glück nicht, doch der Regen macht alles etwas mühsamer und ungemütlicher. Nach vier Stunden Regen lichtet sich der Himmel aber wieder etwas und erlaubt mir zumindest von oben trocken über den letzten Berg des Rennens zu kommen.
Ich bin müde und obwohl meine Kleidung nass ist, versuche ich, mich kurz zum Schlafen in die Büsche zu legen. Nach nur 2 Minuten fahre ich weiter, die Mücken sind nicht zu ertragen.
170 Kilometer und 900 Höhenmeter liegen noch vor mir. Ich bin müde und obwohl meine Kleidung nass ist, versuche ich, mich kurz zum Schlafen in die Büsche zu legen. Nach nur 2 Minuten fahre ich weiter, die Mücken sind nicht zu ertragen. Zudem habe ich kein Wasser mehr und ausnahmsweise hat es keinen Bach, bei dem ich meine Flaschen füllen könnte. Ich merke, dass ich aufgrund der Müdigkeit beginne, schlechte Entscheidungen zu treffen. Ich verschalte mich viel, fahre in den Abfahrten extrem langsam und vor allem schmerzen Knie, Nacken und die rechte Achillessehne. Aber so kurz vor dem Ziel kommt aufgeben nicht infrage, also kämpfe ich weiter.
Ich finde keine Möglichkeit nochmals Food und Getränke zu tanken, von einer Cola träume ich schon seit Stunden
Ich habe Durst und als ich über den Durst nachdenke, fällt mir ein, dass ich seit Stunden nichts mehr gegessen habe. Ich schaffe es ein paar Haribo einzuwerfen und fahre weiter. Irgendwo finde ich einen Bach, um meine Flasche zu füllen und weil ich aus unerklärlichen Gründen nur eine Flasche fülle, bin ich nach nicht allzu langer Zeit schon wieder durstig und ohne Wasser. Sechzig Kilometer vor dem Ziel fahre ich nochmals durch ein Dorf, der Supermarkt ist aber bereits seit 22 Uhr zu und ich finde keine Möglichkeit nochmals Food und Getränke zu tanken, von einer Cola träume ich schon seit Stunden.
Es bleibt mir also nichts anderes übrig, als weiterzufahren und rund 30 Kilometer vor dem Ziel überkommt mich die Müdigkeit. Ich will mich nochmals 15 Minuten hinlegen, doch genau in dem Moment, wo ich mich hinlege, beginnt es wieder zu regnen. Fünf Minuten bleibe ich im Regen liegen, doch an Schlaf ist nicht zu denken. 30 Kilometer, das sollte ich doch noch schaffen, über 1.000 habe ich schließlich bereits in den Beinen. Durch das Regenwetter wird es auch dunkel und erstmals muss ich das Licht einschalten, um zu sehen, wo es lang geht. Die letzten Kilometer des Rennens sind für mich eine Qual. Müdigkeit, Regen und Durst sind eine qualvolle Kombination. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als eine warme Dusche und ein kuscheliges Bett. Trotzdem mache ich eine Pedalumdrehung nach der anderen und nach rund 65 Rennstunden erreiche ich endlich das Ziel in Tolga. Ich werde vom Veranstalter herzlich empfangen und von zwei meiner neuen Schweizer Freunde, die das Rennen nicht fertig gefahren sind. Ich bin 11. Finisher*in im Ziel und auf Sofiane Sehili, eine Ultra-Legende, der das Rennen gewonnen hat, verliere ich knapp 14 Stunden. Sofiane ist das Rennen mit insgesamt 31 Minuten Stoppzeit durchgefahren, ich hingegen hatte total 9,5 Stunden, bei denen ich mich nicht bewegt habe. Ich bin stolz auf meine Leistung und auch auf meine Strategie, denn bei den meisten Teilnehmenden hat sich der Schlafentzug noch vor der Ziellinie gerächt. Verrückt, aber Tatsache: Bereits kurz nach Zielankunft bin ich mich sicher, dass dies nicht mein letzter Gehversuch bei einem Ultracycling-Rennen gewesen ist.
Bright Midnight 2024: Start 14. Juli mit 1.100 Kilometern und 20.000 Höhenmetern. Weitere Infos: www.brightmidnight.cc
Nathalies Bright Midnight Bike
Bike Trek Checkpoint SLR9
Laufräder DT Swiss CRC 1100 Spline
Schaltung SRAM Red / XX1 mit 40 T Kettenblatt und 10–50 Kassette
Taschen Bontrager Framebag und Ortlieb Saddlebag TWO 4.1L
Aerobar Profile Design Neosonic Ergo 45AR, 5 cm Spacer
Licht Bontrager
Reifen Schwalbe G-One RS 40 mm, Tubeless
Navigation Garmin Edge 1040 Solar
Über die Autorin
Nathalie Schneitter startete ihre internationale Mountainbike-Karriere im Jahr 2004 mit dem Gewinn des Cross-Country-Weltmeistertitels bei den Juniorinnen. Seither ist sie Vollgas auf den Rennstrecken dieser Welt unterwegs. In Jahr 2008 qualifizierte sie sich für die Olympischen Spiele in Peking, 2010 sicherte sie sich den Heimsieg beim Cross-Country-World Cup in Champéry, 2019 wurde sie erste E-MTB Weltmeisterin der Geschichte und 2023 gelang es ihr, erneut E-MTB-Weltmeisterin zu werden. Im Organisationsteam der Cycle Week in Zürich hat sie die Messeleitung.
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