In der Ausgabe 12/2017 der “Tour”, lese ich aktuell ein siebenseitiges Special zum Thema “Rekordjagd auf Strava”. Dort prahlt unter anderem der ansonsten sehr geschätzte Buchautor und Fahrstil-Kolumnist Marbod Jaeger in “Krankenhaus statt KOM”, wie er ohne Rücksicht auf Verluste oder Unfälle mit anderen Verkehrsteilnehmern für die Bestzeit “alles riskiert”. Zeit für eine Intervention!
1. KOM ist gefährlich
Wer sich auf öffentlichen Straßen oder allgemein zugänglichen Wegen auf die Jagd nach einer Bestzeit begibt, gefährdet dadurch unbeteiligte Dritte. Das gilt nicht nur für illegale Autorennen in Berlin oder Köln, die derzeit medial in aller Munde sind, sondern genauso für Radfahrer, deren virtuelle Stoppuhr in der Trikottasche tickt. Die Vollgasjagd nach dem KOM (“King of Mountain”, die Bestzeit in einem vorher festgelegten Segment) auf einem schmalen Singletrack hinter der Stadt oder eine kurvige Passstraße hinunter kennt kein Innehalten und keine Reserve, sondern ist eine Fahrt an den Grenzen der Physik und des eigenen Könnens. Das allein verbietet sich im öffentlichen Raum. Wer sich und der grenzenlosen Online-Community unbedingt beweisen will, dass er der Schnellste ist, soll sich für ein Radrennen anmelden. Dort stellen die Veranstalter u. a. mit Straßen- und Streckensperrungen sicher, dass Unbeteiligte nicht gefährdet werden.
2. KOM macht rücksichtslos
Auf der Jagd nach der schnellsten Zeit sind Störungen und Unterbrechungen nicht vorgesehen. Wenn die Stoppuhr den Erfolg oder Misserfolg einer Radfahrt definiert, ist kein Platz mehr für ein spontanes Schwätzchen mit Oma Gisela, die Dackel Waldemar über den Trail führt, oder um sich auf dem Radweg in Ruhe hinter der fröhlich schwatzenden Gruppe Studenten einzureihen. Dann heißt es nur noch: Mit so wenig Zeitverlust wie möglich überholen. Ob sich jemand erschreckt oder ängstigt – was zählt das schon im Vergleich zur Bestzeit in der Community? Schon weit unterhalb einer möglichen Unfallgefahr ist so ein Verhalten rücksichtslos und zudem angetan, Konflikte mit anderen Wegenutzern heraufzubeschwören oder zu verschärfen.

3. KOM erhöht Nutzungsdruck
Ein Blick auf die globale Strava-Heatmap, die Karte, auf der gezeitete Segmente nach Nutzungshäufigkeit farblich dargestellt werden, verrät sofort: Die Segmente sind überall, also auch an Orten oder über Pfaden und Straßen, die sich nicht für eine wettbewerbsmäßige Nutzung eignen. Im Naherholungsgebiet direkt hinter der Stadt, in Naturschutzgebieten, vorbei an Schulen oder über die am stärksten befahrenen Alpenpässe. All diese Wege oder Straßen werden seit Jahren von ortskundigen Radsportlern mehr oder weniger konfliktfrei genutzt. Nun stehen sie einer digitalen Community mit Millionen von Nutzern zur Verfügung. Jedes neue Segment, jeder neue KOM zieht mehr und mehr Menschen an, die sich darauf und daran messen wollen. Und zwar völlig unabhängig davon, ob Wegebeschaffenheit, Auslastung, Witterungsverhältnisse etc. einen solchen Nutzungsdruck überhaupt verkraften.
4. KOM verursacht Wegesperrungen
Mit dem steigenden Nutzungsdruck steigen auch die Kontroversen, bestimmte Wege für Radsportler zu schließen. Mountainbiker sind davon naturgemäß besonders betroffen. Der schmale Pfad am Hochmoor entlang, wo sich in den letzten Jahren immer neue Spuren ausgefahren haben? Der Singletrack durch den Nationalpark, den verantwortungsbewusste Ortskundige schon seit Jahren zu bestimmten Zeiten oder Witterungsbedingungen nicht fahren? Bald nicht mehr! Befürwortern einer unterschiedslosen Totalsperrung von Wegen kann man kaum bessere Argumente frei Haus liefern als die Nutzungszahlen und Durchschnittsgeschwindigkeiten der Strava-Community. Da können sich die regionalen und lokalen Gruppen noch so sehr um Interessenausgleich und gemeinsame Nutzungskonzepte mit Naturschutz- und Forstbehörden sowie den Lobby-Gruppen anderer Wege- und Waldnutzer bemühen. Das Beispiel Los Altos Hills in Kalifornien, wo nach der Auswertung der bei Strava veröffentlichten Geschwindigkeiten das lokale Naturschutzgebiet für Biker gesperrt wurde, ist ein erster Ausblick auf die Konflikte, die noch kommen werden.

5. KOM essen Seele auf
Radfahren allgemein und Radsport im Besonderen kann so viel mehr sein, als der ständige Wunsch, der Schnellste und Tollste zu sein. Doch die Jagd nach dem immer nächsten KOM lässt keinen Platz für die Ausfahrt in leistungs- und erfahrungsmäßig heterogenen Gruppen; keinen Platz für das spontane Naturerlebnis am Wegesrand oder ein gutes Gespräch über das Lenkerende hinweg. Die Jagd nach dem nächsten KOM bedient und befriedigt im Gegenteil vor allem ein narzisstisches Bedürfnis, nicht nur besser zu sein als alle anderen, sondern ihnen das auch noch vor den Augen des versammelten Internets aufs Brot zu schmieren.
Meinung
Was also tun? Ich persönlich finde, es ist dringend an der Zeit, die Apps zu löschen, die KOMs zu vergessen und sich zu fragen, warum wir eigentlich Rad fahren. Mich macht wütend, wie rücksichtslos die Social-Media-Helden mit den Folgen ihres Tuns umgehen. Ich bin mir aber auch sicher, dass viele Radsportler nicht auf Strava und seine Möglichkeiten als Trainings-Tool oder Karten-App verzichten wollen. Das Mindeste wäre jedoch, die absurd testosterontriefende Jagd nach dem KOM einzustellen und endlich wieder das Radfahren in seiner Vielseitigkeit zu genießen, statt es darauf zu reduzieren, wer der dickste Hecht im Karpfenteich ist.
Wie stehst du zu Strava? Konntest du auch schon einige der genannten Punkte feststellen?
694 Kommentare
» Alle Kommentare im ForumVerbessern: ich werd 40. Ich bin froh wenn ich zum Fahren komme. Ich war schon deutlich schneller (rauf und runter), mag mir aber nicht mehr weh tun. Also bin ich viel langsamer haha. Ist mir wurscht
Logo. Ein Hobby ist ein Hobby ist ein Hobby.
Aber die Leistung, die heute Hobbyfahrer raus hauen, sind auch so schon irre.
Vor nicht so langer Zeit galten 2.000 Hm an einem Tag als ambitioniert und 3.000 Hm waren schon eher krass. Heute hauen's mal easy 4.000 Hm raus oder cruisen mal schnell über's Wochenende von München an den Lago und wieder retour.
Das alles kommt ja nicht von nichts. Wenn ambitionierte Hobbyfahrer schon 500 Stunden pro Jahr am Bike verbringen ...
Wenn man jedoch kein Bedarf an Veranstaltungen mit Zeitnahme und Besenwagen hat, ist gezieltes Training oder Strava Quatsch.
Bei mir kam das 2016 als ich mich nach 17y mal wieder auf dem den SBM vorbereitet hatte und ich feststellen musste, dass sie die Gesamtzeit von 10,5h auf 9h verkürzt hatten. Ich war die 3 Male vorher nichtmal in der Nähe von unter 9h. Also habe ich mir die Durchschnittsgeschwindigkeit ausgerechnet und darauf hintrainiert. Noch ohne Strava, aber jedes mal mit Tracking und Ergebnis am Ende.
Strava war dann 2020 Zufall. Und perfekt ist die App allemal nicht. Da kann sogar komoot teilweise mehr.
Dem Freizeitfahrer ohne wirkliche Ambitionen kann das wurscht sein.
Ich sag's einmal so: ich bin froh, dass wenigstens beim Radlfahren nicht immer alles durchoptimiert und auf möglichst viel Steigerung und Effizienz ausgerichtet ist.
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