Rampe ins Glück
Das Rennen ist kaum 20 Kilometer alt und ich bin bereits am Anschlag. Dabei hatte alles so nett begonnen. Vor kaum eineinhalb Stunden war ich lässig zusammen mit 250 anderen Fahrern auf dem Piazza Aranci in Massa auf den TuscanyTrail gestartet. Jetzt hämmert der Puls mit 180 Schlägen durch die Blutbahn und ich zerre meinen bepackten Boliden über einen schmalen Trampelpfad mit Stufen und Absätzen. An Fahren ist schon seit hundert Höhenmetern nicht mehr zu denken. Es ist nass und kühl, irgendwas zwischen echtem Regen und schwerem Nebel umspült die Berge der Apuanischen Alpen. Nach 20 Minuten Heben, Hieven und Tragen kommen wir am Scheitelpunkt „Foce delle Porchette“ an. Nun sind Fahrtechnik und gute Ausstattung gefragt. Und das gilt nicht nur fürs Rad. Der TuscanyTrail ist ein Self-Support-Rennen, was heißt, dass jeder Fahrer sich selbst versorgt. Also haben die meisten Teilnehmer leichte Zeltausrüstung und allerlei komprimierten Hausrat dabei. In der Regel in Lenkerrolle, Rahmen- und Satteltasche verstaut. Als Bikepacking macht die Sache gerade auch in Europa Furore. Letzte Zweifel am Trend lösten sich in Wohlgefallen auf, als Radtaschen-Primus Ortlieb vor wenigen Wochen seine erste Bikepacking-Linie präsentierte. Zurück auf die Strecke: Talwärts sehe ich einige Leute in die Büsche purzeln, andere steigen rechtzeitig kontrolliert ab. 800 Höhenmeter weiter unten lautet meine Bilanz: ein Plattfuß, kein Sturz und reichlich Hunger. Unsere abenteuerlustigen Schenkel haben den ersten Gipfel und somit die ersten 1.000 Höhenmeter intus. Mein Touren-Buddy Walter Lauter und ich steuern die nächste Pizzeria an. Satt geht es dann in die nächste Rampe. Die 800 Höhenmeter direkt wieder hoch. Von den seichten Hügeln der Toskana und einem mediterranen Klima fehlt noch jeder Spur.

Von Crossern, CC-Feilen und Fatbikes
„Isse eschte Monte“, lächelt mich Marco an, schaltet einen Gang hoch und geht lässig aus dem Sattel. In der nächsten Sekunde reißt eine Lücke zwischen uns auf. Der drahtige Mitdreißiger ist der lebendig gewordene Archetyp des italienischen Radsportlers: kurze schwarze Haare, feine Goldkette um den Hals, weiße Rennradsocken, Helm am Lenker und Colnago-Kappe auf dem Kopf. Der braun gebrannte Körper steckt in Klamotten des Lotto-Profistraßenteams und ist bis in die letzte Zelle austrainiert. Ich erhasche noch einen kurzen Blick auf sein Bike: „volle Tupperparty“ – faktisch alles inklusive der Bremsscheiben ist aus Carbon. Der Bock dürfte keine neun Kilo auf die Waage bringen. Die kleine Lenkerrolle und die zierliche Hecktasche lassen auf eine gewichtsoptimierte Hotel-Strategie schließen. Marco ist auf Tempo gepolt. Schon ist er um die nächste Ecke verschwunden. 20 Höhenmeter hat er mir bereits abgenommen.
Dass ich kurz danach auf Alan auffahre, der mit einem Fatbike und voller Zeltausrüstung pedaliert, zeigt, wie unterschiedlich die Teilnehmer der Herausforderung begegnen. Jeder meint, das ideale Rad für die Abenteuerfahrt gefunden zu haben. Lydia, Radio-Journalistin aus Leipzig, hat die schmalsten Reifen im Feld. Sie fährt einen Stahl-Crosser mit zierlichen 35-mm-Schlappen. Später berichtet sie auf Detector FM, dass sie einige Abfahrten des ersten Tages aus Sicherheit geschoben hat. Mein Rad ist ein 29plus-Reisebolide in dem die geballte Erfahrung aus den letzten Jahren voller Bike-Packing-Reisen und Self-Support-Rennen in den USA, Kanada, Portugal, Norwegen, Spanien und Deutschland steckt: Die neue GX22-Schaltgruppe von SRAM hat sich dabei als ideal erwiesen: Das Entfaltungsspektrum ist enorm und deckt sich mit dem Bikepacking-typischen langsamen Bergauffahrten, schließlich hat man reichlich Ausrüstung am Rad und über die Tage noch einiges vor. Gleichzeitig hat die Schaltung mit 39:10 auch eine echte Rouleur-Übersetzung fürs Ballern talwärts auf gutem Geläuf.

Touristenfalle Florenz
Die gerade „Strada Bianca“, wie die berühmten hellen Schotterpisten der Toskana heißen, entlang des Flusses Arno, scheint endlos. Seit einer gefühlten Ewigkeit tänzelt die Tachonadel Limbo knapp unter der 30-km/h-Marke. Der zähe Morgen mit dem letzten Tausenderpass in Apuanischen Alpen bei Nieselregen und auch die matschige Abfahrt sind vergessen. Endlich purzeln die Meilen und auch die Sonne kommt raus. Ich versöhne mich mit dem Tag. Es geht geradewegs auf Florenz zu. Urplötzlich nimmt der Verkehr auf der Strada tumultartig zu. Das GPS leitet uns mitten in die Innenstadt hinein, direkt auf den Piazza del Duomo. Touristenmassen fluten den Platz und wogen in Shorts und mit Reiseleitern in die kleinen Gassen. Unser Flow erleidet einen Kolbenfresser. Fast eine halbe Stunde kurbeln wir hakenschlagend unterhalb von Schrittgeschwindigkeit durch die mäandernden Reisegruppen, bevor die Altstadt uns frustriert und ausgekühlt wieder ausspuckt. Gutes Timing ist wichtig im Radsport, da machen Selbstversorgerrennen keine Ausnahme. Die schnellen Fahrer sind hier in der ersten Nacht durch. Sie hatten freie Bahn und lieferten sich im Morgengrauen für ein paar Minuten ein Rennen mit den Kehrmaschinen.

Glück in der Asphaltkurve: Kehren statt Katastrophe
Wir überqueren erneut den Arno und biegen unerwartet rechts direkt in den Hang. Die Beine brennen und wir müssen in den Keller der Kurbel schalten und am Heck den großen Ring ansteuern. Die Route führt uns hoch zum weitläufigen Piazzale Michelangelo. Zu dumm nur, das dieser geräumige Platz mit herrlicher Aussicht über Florenz zum Angelpunkt des Bustourismus‘ mutiert ist: Heerscharen von Selfie-Stick-Kriegern marodieren rund um die Bronzestatuen und Souvenirbuden. Sie bremsen einmal mehr unsere Fahrt. Es gehört zu den goldenen Regeln des Massentourismus‘, dass es im Rücken der Touristen sehr schnell ruhig wird. Kaum 50 Meter von den Buden weg ist die Jack-Wolfskin-Quote wieder nahe Null. Die Straße liegt wellig auf den toskanischen Hügeln. Seichte Anstiege mit geschwungenen Kurven. Hier und da eine Haarnadelkurve. Einzig der samstägliche Einkaufsverkehr stört ein wenig. Die Sonne lacht, wir schließen uns ihr an! Es geht entspannt Richtung Chiesanuova. Als wir um die nächste Kurve biegen, schauen wir direkt in die zerschellte Frontpartie eines Fiats, der quer auf der Straße steht. Auf unserer Straßenseite läuft ein weißer VW aus. Wildes italienisches Geschnatter erfüllt die Luft. Im Hintergrund naht die Polizei. Wir kurbeln an den Wracks vorbei. „Ich bin froh, wenn wir wieder im Gelände sind, das ist nicht so gefährlich“, meint Walter. Recht hat er. Am Abend sehen wir die beiden Autos wieder. Im Facebook-Posting von Mitfahrer Jasper: „Be careful out there #tuscanytrail. White car was overtaking me. Luckily I stopped in time.“

Kühler Wein auf heißem Stein
Es gleicht dem Bild aus einem Westernfilm: Eine wilde Horde prescht über die Prärie. Sie zieht eine Staubwolke hinter sich her. Die Kamera zoomt auf die Männer. Sie sind müde. Staub und Schweiß bilden eine Heldenkruste auf den Gesichtern. Doch die Augen leuchten voller Freude und Konzentration. Seit San Gimignano, deren mittelalterlicher Stadtkern zum Unesco-Weltkulturerbe gehört, haben wir drei Begleiter. Staub steigt auf. Kiesel springen rechts und links und nehmen die Mitfahrer in Beschuss. Unsere Vorderreifen wühlen sich durch die steile Kurve. Dann preschen wir mit 70 Sachen auf der Strada Bianca bergab, geradewegs auf eine T-Kreuzung zu. Als wir unten stehen, glühen die Bremsscheiben. Allmählich haben wir uns an die Mischung aus Kultur und Natur des TuscanyTrails gewöhnt. Die Logik ist eingängig, der Rhythmus gleichförmig und die Abfolge immer gleich: Der Trail führt meist auf kleinen Landstraßen und Strade Bianche bergauf, bis eine kulturelle Sehenswürdigkeit erreicht ist. Dort folgt der Track der Touristenkarawane durch die historische Altstadt oder Burg. Anschließend geht es vorwiegend über Schotterpisten und manchen Singletrack wieder talwärts, bis der nächste Anstieg nach gleicher Art folgt. Zuweilen wird die Melodie durch eine längere Fahrt in der Ebene ein wenig variiert. Diese Dramaturgie ist kein Zufall, vielmehr hat TuscanyTrail-Initiator Andrea Borchi eine Mission: „Ich möchte den Menschen zeigen, wie schön die toskanische Landschaft ist und welch fantastische Kulturgeschichte wir haben.“
Unsere Kompagnons biegen an einer Wegscheide rechts ab. Wir verschnaufen noch einen Moment und entdecken links einen Holzverschlag. Der entpuppt sich als Straßenverkauf des nahegelegenen Weingutes Pietrafitta. Zehn Minuten und drei Proben später schiebe ich eine Flasche Chianti in den Flaschenhalter am Unterrohr und sichere den zerbrechlichen Passagier mit einem Kabelbinder. Die weiteren Zutaten zum Abendessen kaufen wir in Colle die Val d`Elsa ein und radeln dem Sonnenuntergang entgegen. Eine Wiese, durch einen Hügel vor den Blicken vorbeifahrender Autofahrer geschützt, dient als Nachtlager. Gerade als wir uns häuslich einrichten wollen, gesellt sich Markus, ein Fahrradhändler aus Nürnberg, zu uns. So sitzen wir zu dritt auf den von der Frühjahrssonne erwärmten Steinen und genießen den „Chianti Colli Senesi“, Oliven, Käse, Salami und Baguette. „Das Abendessen kostet uns sicher zehn Ränge in der Platzierung“, meint Markus.

Erlebnis oder Ergebnis
Beim Selbstversorgerrennen gilt die Bruttozeit, also Fahrzeit plus Pausenzeit. Allem voran wird am Schlaf gespart. Ein brisantes Spiel: Wie viel Zeit kann ich sparen und wann beginnt der Schlafmangel das Tempo auf dem Rad zu bremsen? Wichtig ist, auch tagsüber keine Zeit zu verplempern: Pausen minimieren und möglichst optimal nutzen. Im Restaurant umgehend alle Gänge bestellen, erst anschließend ausziehen und auf Toilette gehen. Im Supermarkt bereits beim Aussuchen und Warten an der Kasse zu essen beginnen. Auf Fotostopps oder einen gemütlichen Kaffee in einem Altstadt-Café verzichten die Racer natürlich gänzlich. Spätestens hier teilt sich die Szene in zwei Lager. Die einen wollen so schnell wie möglich am Ziel sein. Sie entbehren jeglichen Komfort, der keinen Vortrieb bringt. Die anderen wollen einen Mix aus Abenteuer, Natur, Kultur und Sport genießen. Das liegt mitunter weiter auseinander. Nicht nur zeitlich: Die beiden Sieger sind die 560 km quasi nonstop durchgefahren und waren nach 37 Stunden und neun Minuten im Ziel, eine umfangreiche Zeltausrüstung suchte man bei ihnen vergebens. Der letzte gelistete Fahrer nahm sich acht Tage, vier Stunden und 27 Minuten Zeit. Sein Rad hatte reichlich Komfortausrüstung in den Taschen. Walter und ich pendeln zwischen beiden Extremen: Auf dem Rad gerne Vollgas, aber ein Selbstversorgerrennen ohne abendliches Lagerfeuer können wir uns nicht vorstellen. Damit fahren wir nach drei Tagen, acht Stunden und neun Minuten auf Platz 50 ein.

Informationen: Tuscany Trail
Route
Der TT startet in Massa, durchquert die Apuanischen Alpen und führt über die Städte Prato, Florenz, San Gimignano, Monteriggioni, Siena, Val d’Orcia, Radicofani und die Halbinsel Scalo Argentario nach Capalbio. Insgesamt sind 560 km und 11.000 Höhenmeter zu bewältigen. Der Asphaltanteil liegt sicher bei 40 Prozent, gut 30 Prozent dürfte auf die charakteristische Strada Bianca entfallen, der Rest verteilt sich auf Singletracks und Waldwege.
Termin
Start: 02.06.2016
Rad
Der Autor fuhr ein starres 29×3-Zoll-Bike mit 22-Gang-Sram-GX-Schaltung und mechanischen Avid-BB-7-Scheibenbremsen. Wegen des hohen Asphalt- und Schotterpistenanteils reicht ein zügiges 29er-Hardtail. Ein Tria-Aufsatz sorgt für Tempo in der Ebene.

Ausrüstung
Neben Werkzeug, Ersatzteilen und Schläuchen muss man alle Ausrüstung für die Nacht dabeihaben: Schlafsack, Isomatte, Biwaksack oder Zelt. Weiterhin gehören Regen- und Ersatzkleidung und Waschzeug ins Gepäck. Satteltasche, Rahmentasche und Lenkerrolle haben sich bewährt. Clever gewählt sollte man mit acht Kilogramm Gepäck auskommen. Wer in der Nacht fahren möchte, der sollte eine gute Lichtanlage dabei haben, am besten per Nabendynamo angetrieben.
Anreise
Neben der Anreise mit dem eigenen Auto gibt es auch zahlreiche Flugverbindungen nach Pisa. Der Flughafen liegt kaum zwei Kilometer vom Bahnhof entfernt, dieser wiederum bietet direkte Anschlüsse zu Start und Ziel.




23 Kommentare
» Alle Kommentare im ForumBeruflich habe ich tagtäglich mit den Auswirkungen von leichtfertigem und missbräuchlichem Alkoholkonsum zu tun. Ich kann es noch nachvollziehen, wenn Autoren im Sinne von bezahltem productplacement Werbung für Alkohol machen. Wenn aber ohne Not - wie hier - unreflektiert und verherrlichend Alkohol inszeniert wird, um einen gewissen Lifestyle zu suggerieren, dann finde ich das einfach nur zum Kotzen. Man möge mir diese harschen Worte verzeihen. Aber man sollte halt schon mal darüber nachdenken, warum hier in Deutschland das Komasaufen unter den Jugendlichen so in ist. Wenn Alkohol - wie hier - so ganz ohne Nachdenken zur Selbstdarstellung benutzt wird, habe ich dafür kein Verständnis.
Stimme Dir, was die Sache betrifft, grundsätzlich zu. Aber da wüsste ich andere Stellen an denen ich ansetzen würde, als dieses Video.
Und das rechtfertigt, das du den beiden dargestellten Personen unterstellst, das sie vielleicht Alkoholiker sind, nur weil sie mit alkoholischen Produkten auf dem Bild erscheinen? Abgesehen davon gehört Wein in der Gegend zu den Grundnahrungsmitteln und gehört dort über 2000 Jahre zum Lifeestyle, Sachen gibts.
Also sollte man Bilder mit alkoholischen Genussmitteln und die konsumierenden Menschen verbieten? Bei soviel political correctness könnte ich kotzen.
Ansonsten ein schöne Tour durch eine noch schönere Gegend. Muss man ja nicht unbedingt im Rahmen des "Wettbewerbs" machen, in diesem Internetz gibt es z.B. die GPS Tracks von 2014 und 2015.
Und das hab ich jetzt genau wo geschrieben? Es ist doch hilfreich, wenn man die Beiträge der Diskussionspartner exakt liest.
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