Gericht: Saarländisches Oberlandesgericht Saarbrücken 3. Zivilsenat
Entscheidungsdatum: 13.01.2004
Aktenzeichen: 3 U 244/03, 3 U 244/03 - 25
Das wesentliche aus dem Urteil:
a) Auf Seiten der Beklagten zu 1) ist zu bei der Bestimmung der Haftungsanteile zu berücksichtigen, dass diese gegen § 8 Abs. 1 StVO bzw. § 1 Abs. 1 und 2 StVO verstoßen hat, indem sie in die bevorrechtigte S. Straße eingebogen ist, ohne auf die von rechts herannahende Klägerin zu achten und diese hierdurch verletzt hat.
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In diesem Zusammenhang kann es dahinstehen, ob das Vorfahrtsrecht der Klägerin dadurch entfallen ist, dass sie entgegen § 2 Abs. 4 Satz 2 u. 3 StVO den linksseitigen Radweg benutzt hat (so OLG Hamburg, VersR 1987, 106 ; OLG Celle, NJW 1986, 2065 (2066); OLG Bremen, VersR 1997, 765 (766); LG Hannover, NJW-RR 1988, 866 ; Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 37. Auflage, § 8 StVO, Rdnr. 30) oder ob ein solcher Verkehrsverstoß - anders als ein Befahren einer Einbahnstraße in falscher Richtung - das Vorfahrtsrecht unberührt lässt (so BGH, NJW 1986, 2651 ; OLG Hamm, zfs 1996, 284; OLG Düsseldorf, DAR 2001, 78 ; AG Köln, VersR 1987, 698 (699)). Denn auch dann, wenn man davon ausgeht, dass das Vorfahrtsrecht entfällt, muss der in die an sich bevorrechtigte Straße Einfahrende jedenfalls damit rechnen, dass Radfahrer den Radweg in falscher Richtung befahren. Wenn er sich hierauf nicht einstellt, handelt er schuldhaft, d.h. er verstößt gegen § 1 Abs. 1 u. 2 StVO (vgl. BGH, NJW 1982, 334 ; NJW 1986, 2651 ; OLG Hamm, zfs 1996, 284; OLG Bremen, VersR 1997, 765 (766); AG Köln, NJW 1982, 345 u. VersR 1987, 698 (699); Hentschel, aaO., § 8 StVO, Rdnr. 30 u. 52).
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Entscheidend für die Haftung des aus der untergeordneten Straße Kommenden ist im Falle einer Kollision mit einem von rechts kommenden Radfahrer also nicht die formale Frage, ob dieser vorfahrtberechtigt war oder nicht. Vielmehr ist maßgeblich darauf abzustellen, ob er mit der hinreichenden Aufmerksamkeit den rechts von ihm gelegenen Radweg beobachtet und auf (verbotswidrig) herannahende Radfahrer geachtet hat oder nicht. Diese Verpflichtung besteht in gleichem Umfang sowohl, wenn man ein Vorfahrtrecht des Radfahrers annimmt, als auch, wenn man ein solches verneint. Daher kann die Frage der Vorfahrtberechtigung für die Frage der Haftung letztlich offen bleiben (so wohl auch OLG Hamm, VersR 1999, 1432 ).
b) Auf Seiten der Klägerin ist dagegen zu berücksichtigen, dass diese entgegen § 2 Abs. 4 Satz 2 u. 3 StVO in unerlaubter Weise den linksseitigen Radweg benutzt hat (vgl. OLG Hamm, VersR 1999, 1432 ; LG Hannover, NJW-RR 1988, 866 ; Hentschel, aaO., § 2 StVO, Rdnr. 67a u. 67b).
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Dahinstehen kann es in diesem Zusammenhang, ob das Gebot des § 2 Abs. 4 Satz 2 u. 3 StVO, den rechten Radweg zu benutzen, lediglich den gleichgerichteten Verkehr schützen soll, wie es das Landgericht angenommen hat, oder auch den Querverkehr. Es geht nämlich vorliegend nicht um die Frage, ob die Klägerin ihrerseits der Beklagten zu 1) gegenüber schadensersatzpflichtig ist, sondern um ihr Mitverschulden. Insoweit reicht es jedoch aus, dass sie diejenige Sorgfalt außer Acht gelassen hat, die ein verständiger Mensch zur Vermeidung eigenen Schadens anzuwenden pflegt (vgl. BGHZ 9, 316 ; BGH, VersR 1979, 369 ; OLG Stuttgart, VRS 66, 92 ; Hentschel, aaO., § 9 StVG, Rdnr. 5).
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Ein derartiges Verhalten ist vorliegend zu bejahen. Denn die Klägerin hat dadurch, dass sie nicht nur verbotswidrig auf dem linken Radweg gefahren ist, sondern auch derart in den Kreuzungsbereich eingefahren ist, dass sie von einem - unvorsichtig - nach rechts abbiegenden Fahrzeug erfasst werden konnte, in ganz erheblicher Weise gegen die zu ihrem eigenen Schutz anzuwendende Sorgfalt verstoßen. Denn der Unfall hat auf der Fahrbahn der Beklagten zu 1), also nicht auf dem Bürgersteig, stattgefunden, was der Zeuge H. ausdrücklich bestätigt hat (Bl. 62 d.A.). Ein von rechts heranfahrender Radfahrer muss aber damit rechnen, dass ein wartepflichtiger, nach rechts abbiegender Pkw-Fahrer sein Augenmerk vornehmlich auf den von links herannahenden Verkehr richtet, da normalerweise nur aus dieser Richtung bevorrechtigte Fahrzeuge zu erwarten sind, die ihm gefährlich werden können (vgl. OLG Bremen, VersR 1997, 765 ; OLG Hamm, VersR 1999, 1432 ; OLG Düsseldorf, DAR 2001, 78 (79); LG Hannover, NJW-RR 1988, 866 ). Dies gilt auch beim Vorhandensein eines Radweges, da Radfahrer bei vorschriftsmäßiger Fahrt normalerweise aus Sicht des Einbiegenden ebenfalls nur von links auf die Kreuzung zufahren. Zwar darf dieser sich hierauf nicht im Sinne des Vertrauensgrundsatzes verlassen. Umgekehrt aber darf auch der vorschriftswidrig fahrende Radfahrer seinerseits nicht darauf vertrauen, dass der Wartepflichtige auch darauf achtet, ob Radfahrer von rechts kommen.
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Das Landgericht hat daher zutreffend festgestellt, dass das Mitverschulden der Klägerin darin zu sehen ist, dass diese überhaupt in den Einmündungsbereich eingefahren ist und nicht schon so weit vor diesem Bereich angehalten hat, dass sie keinesfalls von einem abbiegenden Fahrzeug erfasst werden konnte. Sie hätte dies jedenfalls nicht in verbotswidriger Richtung auf dem Radweg tun dürfen, sondern vielmehr um die Ecke über den Bürgersteig zu Fuß nach Verkehr Ausschau halten müssen. Erst nachdem sie festgestellt hätte, dass nicht mit dem Herannahen eines Fahrzeugs zu rechnen und daher eine gefahrlose Überquerung des Einmündungsbereichs möglich war, hätte sie gegebenenfalls ihre Fahrt fortsetzen dürfen. Sie hätte jedenfalls anhalten und so weit vom Einmündungsbereich entfernt warten müssen, dass es ausgeschlossen war, dass sie von einem unaufmerksam nach rechts abbiegenden Kraftfahrer erfasst worden wäre (vgl. OLG Bremen, VersR 1997, 765 ). Die Klägerin hat jedoch diese Sorgfalt nicht angewandt, sondern sie ist in den Einmündungsbereich derart eingefahren, dass es zu einer Kollision kam.
c) Gemäß § 9 StVG i.V.m. § 254 Abs. 1 BGB trägt unter Berücksichtigung all dieser Umstände der Beklagte zu 1) nicht die Alleinverantwortung für das Zustandekommen des Unfalls.
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Fährt ein Kraftfahrzeugführer in eine bevorrechtigte Straße mit Radweg ein, ohne auf Radfahrer zu achten, die sich ihm auf verbotswidrige Weise von rechts nähern, so ist im Regelfall eine Mithaftung beider Unfallbeteiligter gegeben (vgl. Hentschel, aaO., § 8 StVO, Rdnr. 52 m.w.N.). Deren Höhe ist nach dem Einzelfall zu bestimmen, wobei sowohl eine hälftige Haftungsverteilung (vgl. OLG Hamm, VersR 1999, 1432 (1433); AG Köln, VersR 1987, 698 (699)) als auch eine überwiegende Haftung des Führers des einbiegenden Kraftfahrzeugs (vgl. LG Hannover, NJW-RR 1988, 866 (2/3)) in Betracht kommt. In einigen Fällen wurde in der Rechtsprechung auch von einer überwiegenden Haftung des Radfahrers ausgegangen (vgl. OLG Bremen, VersR 1997, 765 (766) (3/5); OLG Düsseldorf, DAR 2001, 78 (79) (Alleinhaftung); LG Nürnberg-Fürth, DAR 1993, 265 (Alleinhaftung)).
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Im vorliegenden Fall ist eine hälftige Haftung anzunehmen. Das Landgericht hat die hierfür ausschlaggebenden Tatsachen nicht hinreichend gewürdigt und daher das ihm zustehende Ermessen fehlerhaft ausgeübt.