Spannendes Thema, danke für's Öffnen
@Avocado !
Krankheit, Namensfindung, Verantwortung
Ich hatte mal eine gute Unterhaltung mit einer psychisch Kranken, die durchaus auch selbst schon Leid in die Welt gebracht hat. Die meinte: Ein Mensch ist IMMER für sein Handeln verantworlich. Selbst, wenn ihm in einem Anfall die Kontrolle entglitt, dann hat er danach Verantwortung dafür, sich zu entschuldigen, es möglichst wieder gut zu machen und vor allem an sich zu arbeiten. Verantwortung kann bei einem schweren Alkoholiker z.B. eine Selbsteinweisung sein.
Wenn die Verantwortung mal geklärt ist, verliert die genaue Definition meiner Meinung nach an Bedeutung. Krankheit bedeutet vielleicht Kontrollverluste (unter Umständen über Jahre), aber für alles andere ist man trotz Krankheit verantwortlich. Da ich selbst schon Opfer von Gewalt wurde, hier der Satz, der mir am meisten geholfen hat: "Niemand fügt einem anderen Menschen Leid zu, ohne selbst zu leiden.".
Allerdings finde ich die extrem breite Definition von Alkoholismus nicht hilfreich. Jetzt ist also jeder Faschingssäufer, jeder Feierabendbiertrinker ein Alkoholiker. Und? Ergibt sich daraus eine Motivation, was zu ändern?
Ich sehe drei Stufen:
- Grüner Bereich: Trinkt nie oder gelegentlich. Schlägt nicht ungewollt über die Stränge. Kann Alkohol zuhause haben ohne daran zu denken.
- Gelber Bereich: Lässt sich mal vollaufen. Trinkt regelmäßig kleinere Mengen (2 Bier). Trinkt in Gesellschaft meistens. Denkt aber nicht dauernd an Alkohol, hat eine Wahl, und beweist das auch durch größere Phasen ganz ohne Alkohol (ganze Wochen). Das sind Leute, die noch alles im Griff haben. Sie können aber
sehr leicht in die Sucht rutschen, wenn zum Beispiel eine Trennung oder ein Jobverlust oder der Tod der Eltern sie aus der Bahn wirft.
- Roter Bereich: Echte Suchtkrankheit. Dauernd Alkohol im Kopf, Suchtdruck, keine Kontrolle über das Anfangen und die getrunkene Menge. Normalerweise mit schrittweisem Verfall des Lebens. Arbeit, Beziehungen und Wohnung gehen meist langsam zu Bruch.
Ich denke, hier im Thread reden wir viel über verschiedene Ausprägungen des gelben Bereichs, also klare Schwächen/Risiken. Und rote Tendenzen, also Handlungsbedarf.
Ein Freund von mir war beim Arzt und Psychologen und hat einen stationären Entzugsplatz bekommen. Das ist oft der einzige Ausweg, wenn man richtig in der Suchtkrankheit drinsteckt. Sucht bringt uns um, sie ist also auf Dauer stärker als unser stärkster Trieb zu Überleben.
Wer noch nicht so tief drinsteckt, für den halte ich eine Gruppe für die beste Wahl. Gleichgesinnte, niedrige Einstiegshürde, große Offenheit und auch Konfrontation damit, wo man enden könnte. Aber das mag eine persönliche Vorliebe sein.
Meine persönliche Erfahrung ist, dass nach dem Anfang kein Ende da ist. Im Rausch mache ich nichts Bösartiges, aber Beziehungen leiden doch schonmal unter dem Kontrollverlust. Alkohol ist für mich im Alltag aber kein Thema, ich habe auch einen vor sich hin staubenden Kasten hier, kein Problem. Da ich Alkohol immer schlechter vertrage, trinke ich inzwischen auch in der Kneipe oder auf Festivals immer weniger. Aber Mann, es war schon geil, einmal pro Quartal so richtig die Sau rauszulassen ;-)
Eine wichtige Maßnahme zur Suchtvermeidung: Distanz. Nicht auf Disziplin verlassen, die wird stark überschätzt, sagen die Studien. Hat man Alkohol zuhause und ist anfällig, wird man irgendwann schwach werden. Das gleiche mit Freunden, die kein NEIN akzeptieren oder dauernd trinken. Je mehr Stufen zwischen mir und meiner Sucht stehen, desto unwahrscheinlich ist ein Rückfall in einem schwachen Moment. Diese Stufen also bitte ganz bewusst suchen und erschaffen.
Und es klang auch schon an, Sucht ist ganz oft ein Bewältigungsstrategie. Es liegt also ein alter Schmerz vor, plus eine Methode, mit diesem und auch anderen Schmerzen umzugehen. Das ist was Normales, dazu braucht es keine riesen Katastrophen in der Kindheit. Das schöne ist: Sobald wir diese alten Wunden sehen und uns mit ihnen beschäftigen, heilen sie. Somit verlieren sie langsam ihre Kraft. Das ist aber alles schwer zu erkennen und tut auch uU. nochmal ziemlich weh beim Verarbeiten. Das ganze Thema "Suchtbekämpfung" ist also oft eine Einladung zu einer ganz wertvolle Heilungsreise, bei der wir Muster loswerden, die uns schon unser ganzes Leben lang Steine* in den Weg legen.
*nicht die Sorte Steine, die mit dem MTB Spaß machen.