Ich wache etwas gerädert auf. Viel geschlafen habe ich nicht, da ich gestern noch die Fotos des Tages bearbeitet und hochgeladen habe. Heute starten wir weder in Samnaun noch in Scuol, sondern fahren mit dem Postauto-Bus nach S-charl, einem kleinen, lauschigen Bergdorf südlich von Scuol. Der Busfahrer heizt so vergnügt wie flott die Serpentinen hinauf und lässt per Hupe vor jeder Kurve den Jingle aus Rossinis Wilhelm Tell ertönen, der mich frappierend an den Sanostol-Kindersaft von früher erinnert.
Dies ist der 2. Teil des großen Engadin-Spotchecks. Hier geht es zu Teil 1!
Tag 3: Rausch der Sinne
In S-charl ist viel Verkehr. Gleich zwei Postauto-Busse müssen in dem kleinen Dörfchen irgendwie wenden. Auch wir wenden uns, und zwar dem ersten Anstieg zu: Von 1.800 geht es auf 2.500 Meter hoch. Unser Guide Xaver ist heute nicht dabei, stattdessen geleitet uns die mit extrem viel Kondition und Fahrtechnik ausgestattete Nicci über die Trails und durch den Tag. Zuerst sanft und mit einigen Fotostopps versehen geht es entlang an tiefenentspannt glockenbimmelnden Kühen, Bächen und schönen Aussichten über Forststraßen, bis wir knackig per Tragepassage von der Alp Astras hoch auf die nächste Almwiese und bis hinauf auf das letzte Plateau gelangen.
Ich gebe es freimütig zu: Ich bin schon nach diesen ersten 90 Minuten bergauf ganz schön kaputt. Ich bin es nicht gewohnt, so lange am Stück in dieser Höhe mit Fotogepäck bergauf zu treten. Auch den anderen Flachlandtirolern unter uns ist die Anstrengung anzusehen. Dennoch bin ich frohen Mutes was den weiteren Verlauf angeht, denn das wird der mit Abstand längste Anstieg des Tages sein. Am Munt da la Bescha entlohnt uns der wunderschöne Ausblick ins Tal und ich zücke natürlich umgehend die Kamera.
Ich überschlage mich schon wieder mit Werbeprospekt-Superlativen, aber es ist einfach die Wahrheit: Die nächsten Kilometer sind unglaublich lohnenswert. Zunächst geht es ausgesetzt am Hang entlang – nicht unbedingt ein Terrain für Einsteiger, da der Trail teilweise wirklich sehr schmal ist. Auch hier fahre ich wieder oft vor, um die Jungs und Mädels auf den schicken Abschnitten der Trails von ihrer Schokoladenseite abzulichten. Und dann folgt das, was wir im Nachgang als vermutlich besten Teil der viertätigen Reise bezeichnen: Die erste Abfahrt vom Munt da la Bescha. Ein wahnsinnig toller Trail, der sich flowig-natürlich durch die Wiesen schlängelt. Unterbrochen von kleinen Fels-Spielereien und Hinterrad-Umsetzern rauschen wir komplett ohne Fotostopp durch den duftenden Arvenwald. Das war an dieser Stelle die allerbeste Entscheidung, mal keine Erinnerungsbilder zu knipsen! Zu schön der Trail, zu breit das Grinsen, zu gut der Flow. Wahnsinn.
Durchsetzt mit Endorphinen geht es nun fröhlich einige kleine, wurzelige Anstiege berghoch. Netterweise hat Guidin Nicci im Anschluss einige Schotterwege und kleine Bergauf-Rampen organisiert, damit wir wieder etwas runterkommen. Nur, damit wir direkt das nächste Highlight in Augenschein nehmen können: Weißes Gestein und schöne Kontraste bieten an diesem Hügel ein unwirkliches Bild, eingebettet in die umliegenden Berge. Ich dirigiere aber nur zu einem einzigen Fotospot, habe auch einige schöne Bilder, aber irgendwie … da hätte man noch mehr draus machen können. Ich bin etwas ratlos, nehme es aber so hin. Ist manchmal halt so. Oder?
Als wir unsere Wasserflaschen dann aber an der nahen Hütte auffüllen, schaue ich nochmal die 200 Meter zurück zum Fotospot. Das Gestein, dunkle Gewitterwolken, Bergpanorama … ich breche meine interne Regel, nur einmal Fotos pro Spot zu machen, rufe mir kurz die fünf motiviertesten Fahrer heran und sprinte mit ihnen zurück zum Hügel. Das lohnt sich, denn nach fünf Minuten und einer Abfahrt für jeden habe ich das Foto, was ich noch gebraucht habe!
Foto-Exkurs 3
Foto-Exkurs 3
Sei kein Stoffel! Brich auch mal deine eigenen Regeln, wenn du ein Bauchgefühl hast, dass man hier oder dort noch unbedingt etwas fotografieren muss. Zur richtigen Zeit am richtigen Ort gilt nicht nur für Karriere, sondern auch für Fotos!
Jetzt aber schnell, denn das nahende Gewitter sorgt für nervöse Blicke bei Guidin Nicci, die als Local am besten weiß, dass man bei der Wetterstimmung hier lieber nicht weit oben in den Bergen sein sollte. Also nehmen wir unsere Beine respektive Reifen in die Hand und treten weiter. Kleine, sehr spaßige und teilweise etwas waghalsig gefahrene Trails meinerseits runden die nächsten Minuten ab und es grollt immer mehr. Weit ist es nicht mehr, nur noch der „Bach-Trail“ liegt vor uns. Dieser heißt nicht umsonst so, fliegt man doch große Teile des Trails direkt parallel zum Rambach bergab. Und besagter Bach-Trail ist mal wieder ein Trail-Schmankerl unter vielen, die hervorzuheben sind: Es geht nur wenig bergab. Es muss einiges getreten werden. Es tut weh, wenn man links und rechts anrummst. Kurz: Es ist wunderbar! Felsenslalom und kleine Brücken wechseln sich mit schmalen, ellbogenvernichtenden Abschnitten ab. Die Gruppe zieht sich etwas auseinander und ich habe zusammen mit Christoph von Indierides einen Heidenspaß auf dieser Passage.
Es grollt stärker und stärker, hinter uns ist alles schwarz. Glücklicherweise ist Santa Maria schon in Sichtweite. Nun fängt es an zu tröpfeln. Im Vollsprint geht es die letzten 30 Höhenmeter durch das Städtchen – wir schaffen es auf die Sekunde genau, uns in einer kleinen Gastwirtschaft unterstellen, bevor das heftigste Sommergewitter aller Zeiten über uns hineinbricht.
Fast trocken geht es nach einem Panaché für jeden – so elegant nennt man in der Schweiz ein Radler – per Bus und Zug zurück nach Scuol. Zugegebenermaßen haben wir nicht damit gerechnet, dass wir jetzt in klammen Radklamotten nochmal fast 2 Stunden unterwegs sind … aber so ist das nunmal in der Schweiz: Ohne Tunnel muss man um die Berge halt leider drumherum fahren! Die Abfahrt bis hierhin jedenfalls entschädigt diese Rückfahrt in jedem Fall.
Unser Abendessen nehmen wir Corona-konform erneut draußen zu uns. Da wir sehr hungrig sind, bestellen wir die kommenden zwei Stunden nonstop Flammkuchen und trinken schweizerisches Craft Bier. Kann man empfehlen! Zuviel sollte es davon allerdings nicht sein, denn heute Abend heißt es schon Sachen packen. Morgen stehen die finale Tour und im Anschluss die Rückfahrt an.
Zum Nachfahren: Route von Tag 3 auf Strava
Die GPX-Datei zum Nachfahren gibt es hier: H_hentraining_feat_Kuhglocken.gpx
Tag 4: Großes Finale im Nebel
Nach der dritten Nacht in Folge mit Foto-Bearbeitung bin ich erneut ganz schön müde und der welke Dänen-Körper schreit eigentlich nach Ruhe, als ich am frühen Morgen aufwache. Trotzdem bin ich frohen Mutes angesichts des neuen Tages, der laut unserer heutigen Guidin Lisa wieder großartige Trails beinhalten soll.
Heute soll es wieder recht warm werden, allerdings wabert eine dicke Nebeldecke in den Bergen. Nach kurzer Gondelfahrt hinauf ins Scuoler Sommer- und Wintersportgebiet Motta Naluns steht, wer hätte es gedacht, erstmal eine ordentliche Portion Höhenmeter auf der Speisekarte. Knapp 400 davon geht es nach oben, allerdings größenteils entspannt auf Schotterstraßen. Die Aussicht ist sicherlich fantastisch, allerdings sehen wir nix. Vorbei geht es am Piz Clünas (nicht zu sehen) bis auf eine Wiese, auf der wir uns erstmal sortieren und kurz Pause machen.
Foto-Exkurs 4
Foto-Exkurs 4
Mal angenommen, ihr müsst nach einer Biketour oder einem Bike-Event noch Bilder fertigmachen. Einfach mal angenommen. Ich erläutere kurz mal meinen Workflow, wie ich es vor Ort gemacht habe – rein subjektiv und natürlich nur als eine von vielen Ablaufsmöglichkeiten. Es wird etwas spezifisch – alle Foto-uninteressierten einfach den Kasten überscrollen!
Der Rechner steht mit Speicherkartenleser schon bereit. Als allererstes bestücke ich, noch komplett in Bike-Klamotten, den Leser mit den Bildern des Tages und lasse den Upload laufen. An manchen Tagen hat man locker eine vierstellige Foto-Anzahl und bei Bildern im Rohformat müssen so schnell über 30 Gigabyte eingelesen werden. Wichtig für mich ist dabei, dass auch schon Standard-Vorschauen aller Bilder mit generiert werden, damit Adobe Lightroom für die spätere Auswahl schnell durch die einzelnen Bilder huschen kann, ohne noch Vorschauen rendern zu müssen. Jetzt habe ich etwas Zeit, schmeiße die leeren Akkus in die Akkuladegeräte und gehe duschen. Im Anschluss ist der Upload meist abgeschlossen und ich kann mit der Vorauswahl beginnen. Hier gibt es nun unterschiedliche Herangehensweisen in Lightroom – ich für meinen Teil sortiere meist alle verwendbaren Bilder in einer ersten Rutsche für eine grobe Vorauswahl mit einem Stern * durch. Diese Vorauswahl wiederhole ich dann, wähle erneut die Favoriten und versehe diese mit zwei Sternen – je nach Menge der Bilder wird dies nochmal wiederholt. Alternativ arbeite ich auch mit der Fotos auswählen/Fotos ablehnen-Funktion – wie schon beschrieben gibt es hier einige Herangehensweisen. Die Endauswahl bearbeite ich mithilfe Farbprofilen oder eigenen Templates, die pro Bild separat noch angepasst werden. Zum Abschluss werden die besten Fotos herausgerendert und hochgeladen. Um Speicherplatz zu sparen empfiehlt es sich, eine maximale Dateigröße in Verbindung mit einer festgelegten Breite des Fotos zu kombinieren. Wenn es schnell gehen muss, fahre ich mit einer Bildbreite („Lange Kante“) von 2.800 px und 1.500 Kb nicht schlecht.
Alsbald satteln wir aber wieder die Alu- und Carbon-Pferdchen und knallen ein paar bei hoher Geschwindigkeit durchaus zornige flotte Almtrails bergab. Ich bin so in Schwung, dass ich eine Linie verpasse und geradeaus mitten durch die von Kühen tief zertretende Almwiese rase. Hier anzuhalten und gleichzeitig eine Linie zu suchen, in der ich nicht im hohen Bogen über den Lenker katapultiert werde, endet in einem der wildesten Rodeoritte, den ich bislang erlebt habe. Dafür klart der Himmel ganz langsam stellenweise auf, das ist gut. Bergab nehmen wir die Alp Laret ins Visier, auf deren Veranda wir ein paar ordentliche Mittagessen verhaften werden. Ich lasse bis dahin einige Bilder sprechen:
Auf der Alp Laret serviert uns die sehr freundliche Gastwirtsfamilie leckeres Rivella in der Halblitervariante, Käseplatten und einen Kaiserschmarrn allererster Kanone. Geschmack: Viel Kaiser, kein Schmarrn! Aber nicht nur wir nehmen den Mund (mit Kaiserschmarrn) sehr voll. Auch Guidin Lisa spricht für die nächste Abfahrt in höchsten Tönen vom Bilderbuchtrail überhaupt, der jetzt kommen würde. Das wollen wir doch mal sehen. Die Chance, dass das stimmt, ist angesichts der ersten beiden Tage nicht ganz so gering! Aber erstmal haben wir ein putziges, kleines Problem am Hals: Der kleine Welpe von der Alp findet uns so knuffig, dass er uns fast einen Kilometer hinterherwetzt, dann aber etwas planlos ist, was den Rückweg angeht. Tierfreund Leo Kast erbarmt sich dem kleinen Racker und pedaliert mitsamt treu folgendem Hund zurück zur Alp und übergibt ihn vorschriftsmäßig.
Wenige Minuten später jubiliert mein Fotografenherz, denn Lisa hat nicht zuviel versprochen. Trails, Berge, Nebel, Bäume, repeat. Diese Ingredienzen, kombiniert mit ein paar farbenfrohen Bergradfahrern sorgen für mein Highlight-Foto des Tages. Denn sowohl Aussicht als auch Trail sind – wie versprochen – Güteklasse A: Kleine Sprünge, technische Passagen, steilere Stücke, Hinterrad-Versetz-Übungen und schmale Wege kennzeichnen die Abfahrt zur Alp Valmala.
Der Geißen-Alp, wie Patricia ohne jede Ironie anmerkt, als wir dort ankommen. Ich stehe kurz auf dem Schlauch. Vor meinem geistigen Auge steht ein Mann mit großem Grinse-Gebiss, Goldkette, Sonnenbrille und wallendem Herbstblond-Haar in Uncle-Sam-Klamotten stattlich vor dem Haus, während aus dem Haus ein lautes „Rooooobert!“ tönt. Ich finde diesen Gedanken lustiger, als ich sollte, was sicherlich am geringeren Sauerstoff hier oben liegt.
Kurze Zeit hinter der Alp offenbart sich natürlich der Grund für den Spitznamen. Dutzendfach bimmelt es von allerlei Ziegenhälsen, mitsamt Hirten zieht die Geißenherde die kräutrigen Wiesen entlang. Für uns geht es jetzt über wenig spektakuläre, aber warpspeed-schnelle Wege weiter Richtung Tal. Nicht spektakulär, aber Highspeed darf auch mal wieder sein. Wir enden an einer bekannten Brücke, denn hier ist schon Danny MacAskill drübergefahren. Natürlich nicht über die Straße, sondern über das Geländer! Leider ist hier aktuell Baustelle und selbst wenn wir gewollt hätten, können wir die Aktion aus Home Of Trails leider nicht nachmachen. Dafür gibt es noch einen unglaublich tollen Spot an einer Holzbrücke.
Ich schaue nach links, nach rechts, sehe aber keinen Weg. Das Foto aber muss ich haben! Also sage ich kurz den anderen Bescheid, stapfe durchs Unterholz bis an den Rand des Baches und, tada:
Noch ein kleiner Uphill, noch ein paar kleine Trails und schon enden wir in Ftan. Hier heißt es Abschied nehmen von einem Großteil der Truppe, denn Leo und ich machen uns früher auf den Weg und fahren statt eines letzten Trails die Serpentinenstraße hinab ins Tal, auf der wir genau bei unseren Autos auf dem Parkplatz rauskommen.
Ich komme nicht umhin, nochmal kurz zum Dorfplatz zu fahren und meine verbliebenen zwei Wasserflaschen wieder mit frischem, sprudelnden Bergwasser aufzufüllen. Noch ein kurzer Stopp im Supermarkt und es geht verschwitzt, aber glücklich nach Hause.
Zum Nachfahren: Route von Tag 4 auf Strava
Die GPX-Datei zum Nachfahren gibt es hier: Grande_Finale.gpx
Fazit
Nennt mich gekauft, in diesem Fall bin ich es als Fotograf ja tatsächlich. Aber eins kann ich versprechen: Auch ohne einen Gegenlohn wird man hier sehr, sehr begeistert sein: Von Trails, Guides, Landschaft, Leuten. Die Gegend um Scuol mag noch kein maximaler Mountainbike-Tourismus-Magnet sein, aber dennoch ist es empfehlenswert, mal nachzuschauen, was für Trailjuwelen auch hinter Latsch noch versteckt sind – und nimmt man Lift und Gondeln zuhilfe, bieten Samnaun, Engadin und Val Müstair großartige Aussichten und Trail-Schätze. Ich komme definitiv wieder!
Mountainbiken in Engadin / Samnaun / Val Müstair – weitere Informationen
Bikeschulen
- Unterengadin: Alptrails, Supertrail Rides, Bikeschule Scuol. Zur Übersicht
- Val Müstair: Ride La Val, The Bike Patcher Zur Übersicht
Bikeunterkünfte/-hotels
Zertifizierte Bikehotels der Region (hotellieresuisse oder Herbert Bike)
- Bellavista, Ftan
- Reka-Ferienhaus, Scuol
- Arnica, Scuol
- Belvédère, Scuol
- Landgasthof Staila, Fuldera
- Filli, Scuol
Weitere Unterkünfte mit Bike-Infrastrukturen:
- TCS Camping, Scuol
- Jugendherberge, Scuol
Sämtliche „Bike-Hotels“ in der ganzen Ferienregion Engadin Samanun Val Müstair finden sich hier.
Angebote und Wissenswertes
- Engadin Scuol Mobil: öV (RhB, PostAuto, Bergbahnen Scuol) ab der 1. Übernachtung in einem Partnerbetrieb inklusive. Die Engadin Scuol Mobil Karte bekommt der Gast direkt im Hotel. Auf der Bergbahnen in Scuol ist auch der Biketransport inkludiert. Im Zug und Postauto muss für das Bike ein Ticket gelöst werden. Tageskarte Bike: 14 Franken. Teilnehmende Hotels finden sich hier.
- Bike-Touren rund um den Nationalpark inkl. Gepäcktransport: Hier klicken
- Gästekarte “Alles inklusive“ in Samnaun: Bergbahnen (inkl. Biketransport), Parkplätze, SamnaunBus, Eintritt Alpenquell Erlebnisbad
Weitere Informationen gibt es auf der offiziellen Website: www.engadin.com/bike
Wäre ein Trip in die Region eine Option für euch?
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