Die Schweiz! Unendliche Weiten. Zumindest, wenn man oben auf dem Berg steht. Für den folgenden Spot-Check war ich im August 2020 vier Tage lang im östlichen Zipfel des schweizerischen Graubünden unterwegs, rund um Scuol und Samnaun – einen Steinwurf entfernt von den bekannten Trail-Destinationen Latsch und Reschenpass. Wie es allerdings hier in Scuol, nur ein paar Kilometer weiter, trailtechnisch aussieht, wissen vielleicht noch nicht ganz so viele Leute. Also nichts wie los, entdecken wir mal diesen Teil von Graubünden mit Engadin, Samnaun und Val Müstair. Kleiner Spoiler: Ihr werdet es nicht bereuen.
Tag 1 – Rund um Scuol: Aufwärmen mit Schlossblick und Sprudelparadies
Stau in Garmisch-Partenkirchen. Während dieser Satz vor meinen Augen Wirklichkeit wird, fühle ich mich wie der Nachrichtensprecher auf Antenne Bayern: Geografisch so nah, gedanklich als Fast-Däne sehr fern. Leider bin ich auch noch fern meines Zieles, der Ostschweiz, denn dieser Stau frisst meinen Zeitpuffer von rund 2 Stunden kontinuierlich auf, was für den baldigen Tourstart ungünstig ist. Lichtblick nach der Grenze: In Österreich geht es zügiger weiter und so fahre ich nach anderthalb Stunden Zeitverlust, aber insgesamt nur mit einer akademischen Viertelstunde Verspätung auf dem oberen Parkplatz der Bergbahnen Scuol ein – glücklicherweise nicht als letzter Tourteilnehmer, denn auch so manche Schweizer Bahn hat gerade Verzug.
Nach einer Begrüßung mit obligatorischem Corona-Abstand machen wir uns tourfertig. Ich kontrolliere nochmal meinen Fotorucksack, wir checken unsere Bikes kurz durch und schon geht es los mit dem viertägigen Tour-Abenteuer. Angedacht ist heute eine kleine Runde zum Warmfahren und Lockern der Oberschenkel nach den langen Autofahrten, inklusive See- und Schlossblick. Mein Wissen, was mich erwartet, beschränkt sich auf ein zweiseitiges PDF mit groben Daten und Infos, das wir im Vorfeld bekommen haben. Daher lasse ich mich mal überraschen.
Entspannt kurbeln wir, garniert mit einigen kurzen Abfahrten und Besuch am Inn, hinaus aus Scuol und arbeiten uns stetig 400 Höhenmeter nach oben. Highlight nach 10 Kilometern ist der eindrucksvolle Blick auf das pittoreske Schloss Tarasp, wo ich erstmals mein gläsernes Gepäck heraushole und erste Bilder mache.
Foto-Exkurs 1
Wir streifen den kleinen Bergsee Lai Nair, müssen uns aber sputen, weil wir immer noch nicht ganz oben sind. Nach ein paar Kilometern ist es auf 1.600 Metern Höhe so weit und Guide Xaver kündigt nun Waldbodentrails an, die von Flow bis Steilheit ein tolles Fahrerlebnis bieten sollen. Er soll recht behalten: Der Trail bis nach Avrona und weiter bergab ist grandios, bietet Flow und einen Boden, der im Wörterbuch bei G wie Griffigkeit steht und – für mich als Fotograf wichtig – auch als 3D-Fototapete optimal abliefert. Ein paar Dutzend Bilder später sind die Mitfahrer und Mitfahrerinnen zufrieden – ich bin es auch.
Ja, und dann ist die Aufwärmrunde auch schon wieder vorbei. Nach dreieinhalb Stunden kurbeln wir wieder nach Scuol hinauf zu einem der Tageshighlights: Frisches Mineralwasser in drei verschiedenen Kohlensäure-Stärken, das hier direkt auf dem Dorfplatz einfach so aus dem Brunnenhahn kommt. Soda-Stream dürfte in Scuol keine großen Marktanteile haben. Ich notiere mir im Kopf für den Heimweg in drei Tagen, so viel von diesem wahrlich köstlichen Nass abzufüllen, wie möglich.
Der Trail ist durch, der Tag aber noch nicht vorbei. Der Abendplan sieht vor, mit kleinem Nachtgepäck mit dem Post-Bus samt Rädern auf dem Anhänger hinauf nach Samnaun zu shutteln. Und eins sei an dieser Stelle gesagt: Diese Fahrt muss man mal mitgemacht haben! Denn hier machen nicht die großen Gelenkbusse den Autos Platz, sondern andersrum. Mit schlafwandlerischer Sicherheit fräsen die Busfahrer durch die grob in den Berg gehauenen Tunnel – links und rechts manchmal kaum ein Meter Platz. Wir halten regelmäßig die Luft an und lauschen, ob das Blech nicht doch hin und wieder den Fels touchiert. Doch auf wundersame Weise passt es immer, sodass wir mit der Dämmerung im Bergdorf Samnaun ankommen. Schon morgen ist die Königsetappe angesagt: Über die Greitspitze soll es über den Salaaser Kopf, die Fuorcla Val Gronda und den Fimberpass zurück nach Scuol gehen. Ich bekomme angesichts der großen Etappe vom Veranstalter für den morgigen Tag ein E-Fully gestellt, was sich leider als nicht ganz ideale Wahl herausstellen soll …
In Samnaun ist es auf 2.000 Metern schon etwas frischer. Wir essen zu Abend und gehen früh zu Bett – morgen geht’s weiter!
Zum Nachfahren: Route von Tag 1 auf Strava
Die GPX-Datei zum Nachfahren gibt es hier: JA_GR_EZI.gpx
Tag 2 – Samnaun: Von Graten und Grenztrails
Ich fühle mich etwas komisch an diesem Morgen. Einerseits aufgrund der für mich als Flachlandtiroler ungewohnten Höhe, andererseits wegen dieses dicken Trumms an motorisiertem Fahrrad, mit dem ich heute der Exot bin und mich auch so fühle. Es geht los. Wir kurbeln nach einem reichhaltigen Frühstück zur Twinliner-Gondel, die uns auf den Berg zur Alp Trida bringt. Direkt von der Station geht es wieder hinunter in den ersten Trail: Der Trida Trail wurde vor vielen Jahren unter anderem von Claudio Caluori erbaut und führt schnell und flowig hinab zur Gondel Nummer 2, die uns noch näher an die Greitspitze bringt.
Hier auf 2.700 Metern ist die Luft schon dünn. Aber das ist meinem Akku egal, denn ich bin heute mit dem dicken Motorbike dabei, hihi. Vergnügt kurbel ich an den keuchenden Mitstreitern und Mitstreiterinnen vorbei, um einige erste Tagesfotos vom Anstieg und der tollen Aussicht zu machen. Zugegeben, die ersten 150 Höhenmeter im Kaltstart bis auf 2.850 m wären mit dem normalen Enduro schon früh anstrengend geworden, aber der Tag ist ja noch lang.
Was für eine Wahnsinnsaussicht, als wir oben stehen. Der handtuchbreite Trail auf dem Grat liefert bis zum Salaaser Kopf fantastisches Trailvergnügen, ohne dass man sich allzu große Sorgen machen muss, technisch extrem gefordert zu werden. Die Trails, auf denen wir uns diese Tage bewegen, seien, so Local Claudio, quasi ausschließlich natürliche Wege, die nur hier und da höchstens ein bisschen Trailpflege erhalten haben.
Und das merkt man. Bis auf ein paar ausgesetzte Stellen findet man hier weder Mutproben noch Murmelbahnen und kann sich so tatsächlich ganz dem Trailflow hingeb … MOMENT NEIN, HALT STOPP! Ich bin ja als Fotograf da und muss die gerade noch mit Wonne beschriebene Trailflow-Romantik an dieser Stelle kurz unterbrechen – denn statt Trailromantik genieße ich den Duft von Alpenblumen und Kuhdung, während ich mit der Kamera im Anschlag zwischendurch immer mal wieder in der Wiese liege, um die Truppe auf ihrer Flowsuche auf dem Trail gut und schnell aussehen zu lassen. Einen kurzen Exkurs zum Workflow auf solchen Touren erläutere ich an dieser Stelle hier im …
Foto-Exkurs 2
Zurück zum Trail: Die Fotos der Abfahrt vom Salaaser Kopf sind drin und jetzt wird es wirklich fies. Schotterig queren wir hinauf zur Fuorcla Val Gronda und diese 300 Höhenmeter fühlen sich an wie 600, was an dem mehrheitlich schlichtweg nicht mehr fahrbaren Trail mit vielen Schiebepassagen liegt. Allen hängt die Lunge aus dem Hals und ich bin froh über den „Walk“-Modus des E-Bikes, denn auch mit der Motorunterstützung ist an Fahren hier nicht mehr zu denken – es ist schlichtweg zu steil für mich mit Fotorucksack.
Auf der Fuorcla Val Gronda werden Bananen, Butterbrote und Handys gezückt. Mägen und Instagram-Timelines werden gefüttert und auch Windjacken sieht man angesichts des pfeifenden Windes jetzt vermehrt. Ich bekomme aufgrund der nahenden Abfahrt große Augen und wittere mein einziges Hochkant-Foto der Tour, das hier perfekt sein dürfte.
Und so ist es auch! Begeistert lasse ich den Verschluss meiner Kamera durchrattern, bis alle Fahrer und Fahrerinnen aus meinem Blickfeld verschwunden sind. Jetzt muss ich mich sputen, damit die nicht alle ewig warten müssen. Ich fahre los, der Wind rauscht in meine Augen. Das ist nicht gut, denn das bedeutet, dass irgendwo auf dem Plateau noch meine Brille liegt – ein Klassiker, wenn man mit Fahrradausrüstung schnell Fotos macht …! Ich mache eine Kehrtwende und renne hin und her – das gibt’s doch nicht, wo ist das Ding? Fünf Minuten später raketiere ich die fantastische Abfahrt mit Wahnsinnsaussicht hinterher. Weit unten im Tal steht die Heidelberger Hütte – wer schonmal einen Alpencross gefahren ist, könnte diese kennen. Doch bevor wir dort ankommen, geht es natürlich-technisch über von Kühen etwas ausgelatschte und sich immer wieder zerteilende Pfade bis zu einem Bachbett. Ich fahre wieder vor und bin angesichts des lustigen Trails sehr motiviert – Liniensuchen ist angesagt, macht das einen Spaß! Der Bach sieht fotowürdig aus, also balanciere ich in die Mitte des Gewässers und erstelle Erinnerungsfotos im Wildwassermodus.
Die 80 Tiefenmeter zur Heidelberger Hütte ersparen wir uns, denn die hätten wir sonst direkt wieder hoch gemusst. Es geht in den zweiten längeren Anstieg auf den Fimberpass.
Und jetzt spulen wir kurz zurück zur nicht idealen Wahl des E-Bikes. Es fehlen noch 100 Höhenmeter bis zum Pass, als ich einen Stein aufwirble, der mir aufgrund eines kräftigen Rucks des Motors mein Schaltwerk abreißt. Das passiert mir zum ersten Mal überhaupt und ist in diesem Moment etwas ungünstig, denn ich habe nicht nur kein funktionierendes Schaltwerk mehr, sondern auch noch 15 Kilometer vor mir. Allerdings geht es mehrheitlich abwärts – das sollte ja irgendwie klappen.
Den Fimberpass erreiche ich unter etwas mitleidigen Blicken schiebend und relativ geschafft. Die Kombination Fotorucksack und E-Bike mit leerem Akku wäre schon nicht ideal, aber E-Bike ohne Antrieb ist wirklich nicht zu empfehlen! Egal wie wild die morgige Tour wird, mein Endurobike ohne Motor ist hiermit klar wieder gesetzt. Es trifft sich gut, dass wir die zweite Pause des Tages einlegen und ich setze mich einfach mal 10 Minuten hin.
Nach kurzer Rast rolle ich wieder vor und es eröffnet sich – Xaver ist schon voller Vorfreude – das wunderbare Val Sinestra mit fantastischer Sicht. Ich lege die Kamera an und fotografiere wirklich lange, denn die Abfahrt eröffnet von hier oben tolle Fotomöglichkeiten. Schaltwerk und Kette im Rucksack verstaut, nehme ich eine aarongwineske Abfahrt ohne Antrieb in Angriff und bin mehr als positiv überrascht, wie toll der entkoppelte Hinterbau funktioniert. Der Trail macht wieder irre viel Spaß und erfordert aufgrund rutschiger Schotterpassagen und hin und wieder größeren Felsen eine konzentrierte Linienwahl. Die nächsten Kilometer ziehen sich sachte den Hang hinab und kreuzen den Inn-Nebenfluss Brancla mehrfach mit spektakulären Hängebrücken, die nicht unfotografiert bleiben.
Irgendwann neigt sich der Trail wieder nach oben – mit Pushen komme ich nicht mehr weit. Dank tatkräftiger Schiebehilfe von Xaver, Christoph und Tobias bezwingen wir die letzten 90 Höhenmeter Schotterstraße und rollen im Bergdorf Sent ein. Hier ist für mich Schicht im Schacht, was Trails angeht, denn noch mehr Schieben ist heute nicht sinnvoll. Ich rolle daher die Asphaltstraße hinunter und wir gönnen uns noch ein Abschlussbier am Mineralwasserbrunnen.
Zwischenfazit der ersten beiden Tage? Sehr vielversprechend. Naturtrails machen irre viel Spaß und die Auswahl reicht bisher von hochalpin über der Baumgrenze bis zu waldig-flowigen Wurzelabfahrt im duftenden Sommerwald. Ich bin gespannt, was uns morgen erwartet …
Zum Nachfahren: Route von Tag 2 auf Strava
Die GPX-Datei zum Nachfahren gibt es hier: Hochalpin_Deluxe.gpx
Wie gefällt euch die Gegend bislang?
Der zweite Teil des Trips erscheint am kommenden Mittwoch, den 18. November 2020 auf MTB-News.de.
44 Kommentare