Kai Saaler ist unser Mann, wenn es um mitreißende Rennberichte von Ausdauerrennen geht. In diesem Fall berichtet unser rasender Reporter von der 12h MTB Europameisterschaft 2017 in Dießen am Ammersee. Was er erleben durfte und wie sich das Rennen zugetragen hat, lest ihr in diesem Rennbericht. Viel Spaß!
Rennbericht 12h MTB Europameisterschaft
Hallo MTB-News.de Mountainbike-Fans, wie schon in den vergangenen Jahre bin ich auch in diesem Jahr wieder bei der 12h MTB Europameisterschaft in Dießen am Ammersee gestartet. Da ich in der letzten Saison sowohl den Europa-, als auch den Weltmeistertitel in der Solo-Wertung errungen hatte, war der Druck in diesem Jahr größer als sonst. Mittlerweile kann ich mich auch nicht mehr als Underdog im Feld verstecken, sondern werde von der Konkurrenz genau beobachtet. Nach dem ich Anfang Juni bei der 12h MTB Weltmeisterschaft in Penzberg „nur“ den dritten Gesamtrang belegte, haben nun viele bemerkt, dass ich auf meiner Paradedistanz sehr wohl schlagbar bin.
Wir sind alle Menschen mit Fehlern, Ecken und Kanten. Siegen ist also kein Standard und vor allem hatten mir nach der vergangenen Saison die Motivation und der Biss gefehlt. Da ich in letzter Zeit über Facebook viele Anfragen über Training, Motivation, Bike und Renntaktik bekommen habe, möchte ich diesen Rennbericht nutzen, um ein wenig Licht in das Dunkel zu bringen. Verzeiht mir also, wenn ich ein wenig weiter ausholen sollte.
Die Vorbereitung
Viele vermuten, dass 12- und 24h-Fahrer die typischen Grundlagenfahrer sind. Wer aber die Strecken genau betrachtet wird erkennen, dass dies nur zu einem Teil stimmt. In Dießen hatte eine Runde 7,8 km und 130 hm. Gespickt mit Asphalt, Schotter, Singletrail, Wurzeln, Geröll, Graspassagen, rasanten Abfahrten, langen Anstiegen, Flachpassagen, engen Kurven und sehr steilen Rampen. Das bedeutet neben dem gewohnten Ausdauertraining auch sehr viele Intervalle und Krafteinheiten. Ich hatte nach der WM mein Training also grundlegend umgestaltet und zwar weniger, dafür aber effektiver trainiert. Auch in Sachen Ernährung habe ich einiges verbessert und mich weniger kohlenhydratreich, sondern eher durch hochwertige Fette ernährt. Ich habe so noch einmal zwei Kilogramm abgespeckt. Denn wer am Bike auf fast jedes Gramm schaut, speckt lieber am Bauch etwas mehr ab.
Wo wir schon beim Thema Bike wären. Mein Carbon-Ross kommt in dieser Saison mit schmalen 7,92 kg daher und wurde speziell auf die Langstrecken ausgerichtet. Das Bike ist mit zahlreichen Prototypenteile meiner Sponsoren Tune und Trickstuff ausgestattet worden, um die Performance des „2014er Cannondale F29 Team“ deutlich zu erhöhen. Felgen, Naben und nahezu alle Anbauteile aus der Tune-Carbonschmiede und dazu die super leichte Piccola Bremse von Trickstuff, die ein echtes Einzelstück ist. Dazu noch der Rennradsattel Komm-Vor Plus von Tune, der von Riesel Design zusätzlich in mattschwarzer Lackierung veredelt wurde. Aber das beste Bike nutzt nichts, wenn der Fahrer nichts drauf hat oder unmotiviert ist.
Auch hier habe ich fast unbewusst neue Wege eingeschlagen. Eine Woche vor der Europameisterschaft habe ich an einer Benefizaktion für Multiple Sklerose Erkrankte teilgenommen. Dabei galt es innerhalb von 12h so viele Höhenmeter und damit auch Geld für die Nathalie-Todendöfer-Stiftung zu sammeln. Eigentlich nicht die beste Vorbereitung für ein wichtiges Rennen würde man meinen. Aber ich habe bei der Aktion super tolle Menschen mit herzergreifenden Lebensgeschichten kennen gelernt, die einen enormen (über)Lebenswillen haben und für die Rad fahren Leben bedeutet. Da ich in der Mastersklasse immer noch den Weltmeistertitel trug, war ich mit meinem Weltmeistertrikot am Start und viele MS-Erkrankte berichteten mir, dass es für sie motivierend ist, ein Stück mit mir fahren zu dürfen. Dabei waren es genau diese tollen Menschen, die meine Wenigkeit zutiefst beeindruckten und mir die nötige Motivation für die EM gaben. Ich hatte mir also fest vorgenommen, für diese Persönlichkeiten bei der Europameisterschaft alles zu geben. „All in!“, das war die Devise.
Der Tag vor dem Rennen
Training optimiert, Ernährung strukturiert, top motiviert und das Bike getuned, fuhr ich also zusammen mit meinen Betreuern einen Tag vor dem Rennen nach Dießen am Ammersee. Es hatte den halben Tag lang geregnet und es stand schon fest, dass es wohl eine Schlammschlacht wird, weil der Boden im Wald und auf den Wiesen wohl nicht so schnell trocknen würde. Meine Freundin Tamy und ihr Vater waren als Betreuer mitgereist, wir schlugen an einer strategisch geschickten Stelle unser Pavillon auf und richteten uns für den kommenden Tag häuslich ein.
Aus Zeit- und Wettergründen sahen wir allerdings von einer Streckenbesichtigung ab und fuhren zu unserer Übernachtungsmöglichkeit weiter. Andreas Schmelzer, ein befreundeter 24h Spezialist, der ebenfalls an MS erkrankt ist, hatte uns bei der Benefizaktion angeboten, bei ihm und seiner Familie zu übernachten. In diesem Jahr wurde bei der Europameisterschaft zum ersten Mal auch der 12h-Europameister in der Handicap-Klasse ausgefahren und auch Andreas war natürlich am Start. Doch trotz eines erblindeten Auges und in unregelmäßigen Abständen wiederkehrenden Nervenschüben ließ er es sich nicht nehmen, als „Normalo“ zu Starten. Eine wahrlich große Persönlichkeit! Da parken so viele gewöhnliche Leute auf den Behindertenparkplätzen und gehandicapte Menschen setzen alles daran, nicht als solche erkannt zu werden. Wir verbrachten einen superlustigen Abend mit Kochen, tollen Gesprächen und einer Flasche Rotwein meines Sponsors „Alde Gott“. Keine Sekunde dachten wir an das bevorstehende Rennen.
Renntag: 12h MTB Europameisterschaft Dießen am Ammersee
Der Wecker klingelte um 4 Uhr morgens und es war einfach noch zu früh zum Aufstehen. Mit kleinen Augen quälte ich mich aus dem Gästebett neben meiner Freundin und stolperte fast über ihren Dad, der am Boden auf einer Matratze nächtigte. Sein „lautes Atmen“ hätte ich eigentlich hören sollen, aber ich war wohl noch in Trance vom Rotwein. Trotzdem heißt es: Frühstück, Räder richten und auf zum Rennen. Als wir dort ankamen, war unser Pavillon verschwunden. Der ganze Bereich war gesperrt und kein einziges Team war mehr dort. Sascha Straus, ebenfalls ein befreundeter Fahrer, kam auf mich zugestürmt. „Der Bereich ist gesperrt. Wir haben euer Zelt gestern abgebaut und dort vorne wiedererrichtet.“ Er zeigte auf unser Pavillon, dass nun an einer Abfahrt im Fahrerlager stand, aber direkt an der Strecke war. Verschmitzt fügte er hinzu: „Ich hoffe, das ist ok. Es war nichts anderes frei.“ Es war zwar nicht perfekt zum Verpflegen an der Strecke, da man in solch einer Abfahrt locker mal mit 35 km/h runter kommt und dann noch eine Trinkflasche im Fahren aufnehmen muss, aber das war mit Abstand das Beste was man bekommen konnte. Das ist das Schöne an uns „Extremfahrern“. Man hilft sich gegenseitig und ist mehr Mitstreiter als Konkurrenz. Das gibt es leider viel zu selten im Sport.
Nach dem Schock mit dem Pavillon kam sofort der nächste. Ich musste mir einen Einlauf von meiner Freundin einkassieren, weil ich zu wenig und das falsche Trinken gekauft hatte und viel zu wenig zu essen dabei hatte. „Du willst ein 12h Rennen mit kohlensäurehaltigem Mineralwasser fahren? Hast gerade einmal drei Riegel dabei und in der Iso-Dose ist nur noch ein Häufchen Elend drin. Das reicht niemals. Du wirst eingehen wie ne Rosine!“ Ich wusste, dass sie mal wieder recht hatte. Aber kontern musste ich ja irgendwie. „Ich hab noch selber gebackene Riegel, fünf Gummibärchen und selbst gemachtes Gel dabei. Das wird schon werden.“ Nur keine Panik aufkommen lassen war mein Motto. Es war nun 7:30 Uhr, noch eine halbe Stunde bis zum Start und die Sonne brannte bereits jetzt vom Himmel herunter. Es versprach ein heißer Tag zu werden und da sollte ich wirklich mit meinen wenigen Kalorien, die ich eingepackt hatte, haushalten.
Zehn Minuten vor dem Start stand ich im Startgetümmel zwischen den anderen schmerzsüchtigen Ausdauerverrückten. Neben mir ein Fahrer, der wirklich nach einem harten Gegner aussah. Er hatte einen Aerohelm und einen Zeitfahrlenker montiert. Ich erinnerte mich an die Worte eines Freundes, der mir Tage vor dem Rennen von Jochen Böhringer berichtete, der 4. beim „Race Across Germany“ wurde. Ein Rennradrennen nonstop von Flensburg bis nach Garmisch, bei dem 1.100 km zurückgelegt wurden. Dieser Kollege sah auch wirklich austrainiert aus. Schmal, muskulöse Beine und die Adern waren am ganzen Körper zu sehen. Ein echter Ausdauerathlet eben. Ich weiß nicht, ob ihr das vor dem Start kennt, aber spätestens dann meldet mein Gehirn „HILFE! -> Ich will hier weg.“ Ich blickte mich weiter um und sah Andreas, meinen an MS erkrankter Freund. Der Puls wurde schneller, die Pupillen kleiner und ich scharrte nun mit den Hufen. Ich redete mir ein, dass ich das nicht für mich, sondern für meine „Multiple Sklerose-Freunde“ machte. Ich roch Blut und mein Jagdinstinkt war geweckt!
Das Rennen
Der Startschuss viel, 68 Einzelstarter und insgesamt 99 Teams peitschten los. Ich versuchte schon zu Beginn an richtig Druck zu machen, da ich wusste, dass man die Pace in der sengenden Mittagssonne nicht würde halten können. Vor allem nicht, wenn man wie ich zu wenig Nahrung dabei hatte. Ich mischte mich also unter die 6er und 4er Teams. Diese legten aber schon von Anfang an ein ordentliches Tempo vor und mein Puls war während der ersten Runde mehrmals über der 170er Marke. Wie erwartet war es in den Waldabschnitten und auf den Wiesen noch richtig nass. Das kostete enorm Kraft, aber es mussten ja alle da durch. Ein Wurzelabschnitt wurde komplett aus dem Streckenprofil gestrichen, da es wohl für die zahlreichen Hobby- und gehandicapten Fahrer zu gefährlich gewesen wäre. Leider hatte die Strecke dadurch nur wenige „spaßige“ Sektionen, auf die sich das Mountainbiker-Herz freuen konnte. Ich muss wohl noch lange warten, bis es bei solchen Rennen eine A- und B-Linie gibt oder, dass deutsche Rennen ähnlich wie das 24h Rennen in Finale Ligure werden. Naja, aber was will man erwarten, wenn man als Baden-Württemberger noch nicht einmal legal auf Wanderwegen die Natur genießen darf?
Am Automobil Club Dießen, dem Veranstalter, lag es auf jeden Fall nicht. Was die innerhalb der letzten fünf Jahre aus dem Rennen gemacht haben, ist schon bemerkenswert. Man spürt wirklich, dass der ganze Ortsteil Wengen an einem Strang zieht und nahezu alle Bewohner involviert sind. Wer nicht am Helfen war, stand an der Strecke und feuerte tatkräftig an. Als Fahrer gab das wirkliche Zusatzmotivation und ich prügelte mein Cannondale förmlich über die Strecke. Zum Glück wurde das Federgabelsetup einige Tage zuvor von meinem Sponsor „Follow Me Store“ neu eingestellt, denn ich war in einigen Abschnitten teilweise so schnell, dass ich über Kuppen sprang, die wahrscheinlich nicht als Sprünge gedacht waren. Nach einer Stunde Renndauer hatte ich einen Durchschnittspuls von 162 Schlägen pro Minute. Da war echt permanent Druck auf meinen Rennradpedalen. Nach der zweiten Stunde sank zwar der Puls auf durchschnittlich 158 Schläge, aber das war natürlich immer noch viel zu schnell. Ich fühlte mich aber super und gab eine weitere Stunde Vollgas. Das Ergebnis: Nach drei Stunden Renndauer und einem Durchschnittspuls von 155 hatte ich nun schon einen beachtlichen Vorsprung herausfahren können. Ich drosselte also mein Tempo ein wenig, weil ich wusste, dass nun die Hitzeperiode kommen würde.
Und so war es auch. Der Stern knallte von oben herab, was er hatte. Im Wald war es zwar noch halbwegs angenehm, aber gerade in der Wechselzone und in der Team-Area, die sich unterhalb des Schatzberges befanden, stand die Luft. Mein innerer Monolog nannte diesen Ort „Death Valley“. Für die Zuschauer sah es wohl so aus, dass ich permanent im Stehen fahren würde und Druck machte. Aber in Wirklichkeit wollte ich einfach nur so schnell wie möglich durch das „Tal des Todes“ hindurch fahren. Ich war heilfroh, dass ich das Rennen nicht mit meinem Weltmeistertrikot gefahren bin. Zum einen ist mir das eher peinlich und zum anderen konnte ich so auf alle Vorteile meines kühlenden Trikots zurückgreifen.
Nach fünf Stunden beginn ich allerdings einen Fahrfehler, da ein Fahrer vor mir eine Schikane im Wald übersehen hatte und einfach durch das Flatterband fuhr. Ich natürlich hinterher. Es war zwar keine Absicht, verschaffte mir aber dennoch einen Vorteil von 10 Sekunden. Das ist zwar nicht viel, aber ich fühlte mich dennoch als Betrüger. Das hatte zwar keiner außer der vor mir fahrende gesehen aber ich entschied mich dennoch dazu, mich beim Renngericht anzuzeigen und eine Zeitstrafe in Kauf zu nehmen. Keine zwei Minuten später sprang mir in einer technischen Abfahrt allerdings die Kette vom Kettenblatt und ich hatte Mühe, sie wieder einzufädeln. Kleine Sünden bestraft der liebe Gott eben sofort. Der Zeitverlust betrug 30 Sekunden, also dachte ich mir, war das ja nun Zeitverlust genug. Gut, ich wusste ja, dass mein Antrieb und die Kette nun schon den Zenit überschritten hatten, aber ich dachte mir vor dem Rennen: „Never change a running System!“ Ich nannte meine Kette von nun an „Donald T.“, da sie wohl nicht machen wollte, was man von ihr verlangte und ab und zu ein Quertreiber war. Es ging munter weiter.
Der Puls pendelte sich derweil bei 140 Schlägen pro Minute ein und die Rundenzeiten wurden auch immer langsamer. Ich bekam von einem Fahrer die Info, dass sich hinter mir eine Fünfergruppe gebildet hatte, die anscheinend zusammen arbeitete. Dabei musste ich immer an ein Teamzeitfahren der Tour de France denken und wusste, dass so wirklich schnell gefahren werden konnte. Es stellte sich dann allerdings heraus, dass zwischen meinen Verfolgern jeweils eine gute Minute abstand war. Da ging es also wirklich um die Wurst und es entstand ein wahres Zermürbungsrennen. Nach der Hälfte des Rennens sah ich auf einem flachen Asphaltabschnitt Jochen Böhringer im Windschatten eines anderen Fahrers fahren.
Meine sehr sparsame Ernährung machte mir nun auch zu schaffen, aber ich wusste, dass dies nun ein taktisch entscheidender Punkt des Rennens war. Bei seinen Trainings- und Rennkilometern dachte ich mir, wird der wohl hinten raus sehr stark sein. Nun gab es drei Möglichkeiten. Erstens: auf ihn aufschließen und mit ihm fahren, da ich ja schon eine Runde Vorsprung hatte. Zweitens: Auf ihn aufschließen, ein Stück mit ihm fahren, den Gegner lesen und dann zuschlagen, so wie Nino Schurter es zu Weilen macht oder drittens: Schockmoment ausnutzen. Da wir erst Halbzeit hatten, entschied ich mich für Variante #3. Ich nahm allen Mut zusammen, forcierte mein Tempo, stach an den beiden vorbei und versuchte so entspannt wie möglich auszusehen. Angestachelt vom Adrenalin konnte ich das Tempo sogar noch eine Runde lang aufrecht halten. In den Abfahrten kam ich sogar wieder zu alter Form auf und war erstaunt, dass meine Onza-Reifen nach dem dritten 12h-Rennen in Folge immer noch Grip wie am ersten Tag hatten.
Schnell hatte ich weitere fünf Minuten Vorsprung herausgefahren und konnte wieder langsamer werden. Nach acht gefahrenen Stunden fühlte sich nicht nur mein Magen leer an, sondern auch meine Beine. Wie beim Mobiltelefon schaltete der Körper nun in den Energiesparmodus um. Das meine Freundin auch immer recht haben muss, dass ich zu wenig eingekauft hatte. Ich war ja selber schuld an der Misere. Die trockene, heiße Luft und die sparsame Ernährung machten mir immer mehr zu schaffen und ich wurde langsamer. Es waren noch vier Stunden zu fahren und ich wusste, dass innerhalb dieser Zeit noch viel passieren konnte. Ich versuchte also, mich nicht unterkriegen zu lassen und meinen Stiefel einfach immer weiter zu treten. Die Gedanken kreisten derweil immer mehr um meine Verfolger. Ich blickte mich immer wieder um, da ich davon ausging, dass die nun von hinten angeschossen kommen würden. Aber dann die Entwarnung durch meine Betreuer: Ich hatte anscheinend weitere fünf Minuten herausfahren können, obwohl ich eigentlich langsamer wurde. Es erging wohl allen gleich. Jeder war am leiden und schindete seinen Körper.
Die letzten Stunden waren eine Zerreißprobe für den Kopf. Die Beine taten zwar ihren Job, aber der Verstand schrie permanent „aufhören“. Viele Fahrerinnen und Fahrer auf der Strecke machten mir Mut und feuerten mich an. Auch neben der Strecke schrien die Zuschauer meinen Namen, was wirklich etwas surreal für mich war. Einen ganz normalen Typen wie mich kannten nun irgendwie alle. Sogar Slim Gamh-Drid, der amtierende 24 Stunden Höhenweltrekordhalter, feuerte mich an, welch eine Ehre für mich! Die letzten beiden Stunden habe ich mir dann keine Zacken mehr aus der Krone geschlagen und riskierte nicht mehr alles. Ich unterhielt mich mit den Streckenposten und meinen Mitstreitern auf der Strecke. Ich versuchte zurückzugeben, was sie mir zuvor gegeben haben. Mut. Sogar mein letztes Gummibärchen verschenkte ich noch an einen Teilnehmer, der es anscheinend wirklich nötig hatte.
Als ich in der Wechselzone dann einen Riesenpokal erblickte freute ich mich schon, endlich mal solch ein Teil meiner Freundin zu schenken. Beim Mountainbiken hab ich noch nie einen richtigen Pokal gewonnen und dann gleich solch ein Hammerteil. Vor der letzten Runde hatte ich dann sogar noch genügend Zeit, um mir dann doch noch das Weltmeistertrikot für die Zieldurchfahrt anzuziehen. In der letzten Runde kamen mir dann sogar die Tränen. Ich hatte nicht Pipi in den Augen, weil ich gewonnen hatte, sondern weil ich an meinen Freund Andreas und die Multiple Sklerose-Erkrankten dachte, für die fast jeder Tag solch ein K(r)ampf ist. Das klingt für Unbeteiligte sicher abgedroschen, aber nach 12 Stunden am und über dem Limit kam ich mir plötzlich denkbar klein und unbedeutend vor.
Jochen Böhringer überquerte mit einer Runde Rückstand und nur eine Minute nach mir das Ziel. Wir verstanden uns sofort prächtig und gratulierten uns gegenseitig für unsere Top-Leistungen. Mit einer weiteren Runde Abstand komplettierte Christian Hackel das Podium. Platt wie Schnitzel genossen wir die Champagnerdusche auf dem Treppchen, mit den Sektflaschen, die ich selbst mitgebracht hatte. Jeden, der nun denkt, bei einer solchen 12h MTB Europameisterschaft wird man mit Preisen überschüttet, muss ich leider enttäuschen. Der überdimensionale Pokal war für den Stadtmeister bestimmt und die Preise für die schnellste Rennrunde waren dieselben wie für das 12h Solo-Martyrium.
Keine Frage, Kerstin Kuhnlein hat es mit ihrer schnellsten Rennrunde und das als Zweierteam-Fahrerin mehr als verdient. Auch die 15:49 Minuten-Runde von Jordan Haarpaintner ist eine beachtliche Leistung. Aber es steht in keinem Verhältnis zu den 264 Kilometern, den 4.600 Höhenmetern und den 5.000 Kalorien, die der Radkomputer bei einem Sieg in der Solo-Klasse anzeigt. Wer also auf Preise und Lorbeeren aus ist, für den sind solche Extremrennen nichts. Aber mir und den anderen Solofahrern geht es auch nicht um die Preise oder die Bestätigung, sondern viel mehr darum, sich und den Charakter zu formen. Mit einem Welt- oder Europameistertitel als Solofahrer kann man auch nicht angeben, da die Meisten einen ohnehin für verrückt halten. Bleibt also nur die Erkenntnis, dass man bike-verrückt ist und ich an diesem Tag wohl Europas Verrücktester war.
Frauen Solo-Rennen
Der Teilnehmerrekord wurde in diesem Jahr zwar nicht geknackt, aber auffällig war auf jeden Fall, dass immer mehr Frauen auf dem Bike unterwegs sind. Sogar acht Frauen stellten sich der 12-Stundenherausforderung als Solistinnen. Darunter auch die spätere Europameisterin Vanessa Habl. Hier nun der Rennbericht aus ihrer Sicht.
„Mit gemischten Gefühlen gings zur 12h MTB Europameisterschaft nach Dießen. Gesundheitlich und zeitlich bedingt fehlen mir heuer einfach viele Trainingskilometer und ich wusste, da muss schon alles zusammenpassen, um ein vernünftiges Rennen zu absolvieren. Die Strecke kannte ich von den letzten Jahren und so konnte ich mich schon vorher auf die zähen Wiesenpassagen und Waldböden einstellen.
Von Anfang an konnte ich einen guten Rhythmus finden und die Beine fühlten sich gut an. Die größte Gefahr bei solchen Rennen ist es, die ersten paar Stunden zu schnell anzugehen. Ich zwang mich also, das Tempo nicht zu erhöhen und fuhr erst mal Runde für Runde so weiter. Ich wusste zwar, dass ich zu diesem Zeitpunkt vorne lag, die anderen Mädels waren mir allerdings stets dicht auf den Fersen. Zeit für eine Pause blieb nicht. Und irgendwann kam dann auch wie zu erwarten der Punkt, wo die Beine schwer werden, der Rücken zu zwicken beginnt, der Magen sich quer stellt und der Kopf einfach denkt „wieso tu ich mir das an?“. Welcher Langstreckenfahrer kennt das nicht? Schnell versuchte ich mich auf andere Gedanken zu bringen und erfreute mich eher über die positiven Zusprüche von all den anderen Fahrern und Zuschauer auf der Strecke. Irgendwie sind wir ja alle eine große Radlfamilie. Und das ist genau der Grund, warum es die Strapazen dann doch wieder wert sind. Die letzten Runden gab ich noch mal alles, weil ich nicht wusste wie weit die Verfolgerinnen hinter mir waren. Wahrscheinlich habe ich mich noch nie zuvor bei den letzten Metern so oft umgeblickt wie dieses mal – ich konnte es selbst nicht glauben, nach knappen 200 km und 3.750 hm im Ziel dann meinen Namen als Gewinnerin der Damenwertung zu hören. Ein unglaubliches Erlebnis.
Handicap Solo-Rennen
Wie ich finde, ist das Dießener 12h Rennen ein Paradebeispiel, wie man gehandicapte Menschen in den Alltag integrieren kann. Es ist nicht wie bei Olympia, dass es eine eigene Veranstaltung zwei Wochen danach gibt und die Öffentlichkeit kaum etwas davon mitbekommt. Nein, es ist das gleiche Rennen und diese Menschen haben es verdient, von genau so vielen Leuten angefeuert zu werden wie wir „Normalos“. Es haben sich sogar vier Solisten in dieser Wertung der 12-Stundenherausforderung gestellt. Europameister wurde Michael Büttner, Wolfgang Steckenleiter kann sich nun Vizeeuropameister nennen. Die Bronzemedaille ging an Lars Konek, während der vierte Platz an Florian Herdener ging. Zum Schluss möchte ich aber noch einmal meinen Freund Andreas Schmelzer erwähnen, der trotz seiner MS-Erkrankung und einem 5% sehfähigen linken Auge in der normalen Soloklasse gestartet war. Er konnte 2015 sogar das 24h Rennen in Davos gewinnen und war dieses Jahr in Finale Ligure am Start. Er lebt für das Mountainbiken und musste das Rennen leider wegen gesundheitlicher Problemen abbrechen. Dennoch bin ich mir sicher, dass er beim 24h Rennen in München wieder top fit an der Startlinie steht. Dann also alle hin und anfeuern!
Weitere Informationen
Website: www.schatzbergrennen.de
Text: Kai Saaler
Redaktion: Tobias Stahl
Bilder: Sportograf.com, Kai Saaler
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