Mein Kreislauf hat Angst. Dieses leicht unterschwelliges Gefühl der Furcht wallt kurz nach dem Einstieg in den Flieger in mir auf, der uns in den nächsten sieben Stunden aus einem nördlicheren Teil Asiens in den Süden transportieren wird. Und südlicher bedeutet angesichts der Temperaturen in Japan, die den aktuellen deutschen nicht unähnlich sind, dass es gleich warm wird, sehr warm. Wir haben erst gar keine Jacke mit ins Handgepäck gestopft, denn die brauchen wir die kommenden Tage nicht mehr. Schon vor dem Trip hieß es, dass wir für zwei Jahreszeiten packen sollen. Kurz vor Landung zeigt das Außenthermometer eine Temperatur von 26 Grad auf unseren Bildschirmen an, allerdings schon in 2000 m Höhe. Landung, Taxi, Aussteigen. Kombiniert mit den letzten Ausläufern des Jetlags erzeugt der Temperaturunterschied von rund 30 Grad und rund 90 % Luftfeuchtigkeit einen ordentlichen Roundhouse-Kick in unserem Kreislauf. Willkommen in Singapur während des Monsuns.
Der zweite Teil unserer Shimano-Mediatour führt uns also nach Südostasien, wo wir neben Shimano Singapur auch den Hauptstandort in Malaysia, der offiziell nur eine Busstunde entfernt liegt, besuchen werden. Im Bus werden wir von unserer Reiseleiterin empfangen, die uns die nächsten Tage begleiten wird und neben einigen lobenden Worten über den Stadtstaat Singapur gleich ein paar warme, aber ebenso warnende Tipps in die Runde schickt. Drogenkurieren droht hier die Todesstrafe, Wildpinkeln kostet umgerechnet 320 Euro, vorsätzliches Kaugummi-Ausspucken oder Kippen-Wegwerfen ungefähr das gleiche, Straßen ohne Zebrastreifen oder Ampeln zu überqueren sollte man angesichts der empfindlichen Strafen ebenfalls tunlichst unterlassen und wenn man keine schmerzhaften Rohrstock-Andenken am Hintern haben möchte, sollte man keine Züge mit Graffiti besprühen. Nichts dergleichen habe ich vor, ich bin schließlich DIMB-Mitglied.
Viel Zeit bleibt uns am Reisetag nicht, wir essen im Hotel zu Abend und wandeln noch eine Stunde durch diese warme, pulsierende, unwahrscheinlich westliche und gleichzeitig exotische Stadt, während unser Kreislauf bereits zwei Meter Vorsprung hat. Ab 22 Uhr abends gibt es in Supermärkten zwar noch Softdrinks, aber kein Bier mehr zu kaufen. Also kein Fußpils heute. Vielleicht erklärt das auch die absolute Tiefenentspanntheit aller Leute, die im neonfarbenen Nachtlicht durch die Orchard Road flanieren? Eigentlich eh besser ohne Bier an diesem Abend, denn morgen geht es, wir kennen das, wieder früh los. Per Bus.
Mitten im Dschungel. Shimano Malaysia
30 Grad um 7 Uhr morgens, daran müssen wir uns definitiv noch gewöhnen. Von Singapur sehen wir erst heute nachmittag wieder etwas, denn der Vormittag ist für die Besichtigung der 40 Kilometer entfernten Produktionsstätte in Malaysia reserviert. Da wir heute neben Malaysia auch noch die Produktion in Singapur besichtigen wollen, zweimal aus einem Land aus- und wieder einreisen und am Nachmittag noch ein Bikefitting für die morgige Rennradtour durchführen werden, werden wir heut wieder aufs Gas drücken müssen. Aus 40 Minuten Fahrzeit werden inklusive Ausreise (Singapur) und Einreise (Malaysia) anderthalb Stunden, aber dafür haben wir neue Stempel im Reisepass.
Malaysia ist ebenso grün wie Singapur, die Natur ist hier aber definitiv vorherrschender. Mangrovenwälder en masse und am späten Vormittag kaum Leute auf den Straßen – wer mag es ihnen bei diesen Temperaturen verdenken. Die Gebäude von Shimano Malaysia stehen denen in Japan in punkto Reinlichkeit und Modernität in nichts nach, auch Reise-Gruppenfotos sind ähnlich populär, wie wir direkt zu Beginn feststellen. Neben einem quietschgelben Shimano-Helm erwartet uns auf den Tischen im Konferenzsaal ein leckerer Ananascocktail – genau das Richtige nach der Busfahrt! Die nun folgende Prozedur kennen wir schon – Helm auf, Funkhörer ins Ohr und ab in die Produktion („lassen Sie bitte Fotoapparate und Mobiltelefone hier“ auch hier hat sich nichts geändert).
Die 1990 in Malaysia eröffnete Shimano-Dependance produziert als erste von unseren bisher besichtigten Firmen nicht nur Bike-Zubehör, sondern auch Angelspulen aller Qualitätsstufen und Größen. Warum eigentlich Biken und Angeln? Lächelnd wird uns erklärt, dass Shōzaburō Shimano, der Gründer Shimanos, damals drei Lieblingshobbies hatte: Er fuhr gerne rad, angelte und ruderte gerne – weswegen heute auch alle drei Sportarten von Shimano bedient werden. Allerdings ist der Ruderbereich im Shimano-Bereich recht klein, zudem folgte die Angelsparte erst 1970, weswegen Shimanos Schwerpunkt auch ganz klar auf der Fahrradkomponenten-Produktion liegt. Einige Gemeinsamkeiten haben die Komponenten im Fahrrad- und Rudersport übrigens – die Schuhbefestigung im SDR-Stemmbrett von Shimano Rowing Dynamics hat deutliche Gemeinsamkeiten mit dem weit verbreiteten SPD-Klicksystem, so kommt alles zusammen.
Neben den Angelspulen werden im Shimano-Werk Malaysia aus Standortgründen hauptsächlich günstigere Gruppen produziert: Alivio und Acera im Mountainbike-Bereich, Tiagra und Claris in der Rennradsparte, außerdem Laufradsätze wie beispielsweise die XT-Kompletträder. Fast alles hier wird inhouse produziert und das nicht zu knapp: Wuchtige Schmiedemaschinen zum Kalt- und Warmschmieden stehen hier, außerdem wird hier gestanzt, CNC-gefräst und hitzebehandelt. Auch die Print- und Laser-Oberflächen werden hier gemacht, lediglich einige wenige Finalisierungen wie Anodisieren und weitere Oberflächenbehandlungen werden nicht im Malaysia-Werk durchgeführt.
Völlig vernachlässt haben wir bislang allerdings das Produkt, das Ernest Monnington Bowden berühmt gemacht hat und ohne dass auch die perfekteste analoge Schaltung nicht funktioniert: Schaltzüge! Erstmals werden wir durch eine Produktionshalle für Bowdenzüge und Zughüllen geführt und so unspektakulär es sich anhört, ist es gar nicht: Riesige Rollen mit vielen Kilometern Zug werden hier abgeschnitten, Nippel werden angelötet, das ganze gerollt und verpackt. Das passiert allerdings nicht einzeln, sondern auf webstuhlartigen Geräten mit mehreren Zügen nebeneinander – schnell und präzise wird hier gearbeitet.
Freundlich wird die Gruppe weitergebeten. Wie schon im Firmensitz in Sakai ertönt auf einmal Musik in den lauten, stampfenden und öligen Hallen. Durch die Hallenmitten fahren langsam, aber bestimmt, Schienenfahrzeuge mit Nachschub und fertigen Produkten – und damit man von diesen nicht überfahren wird, dudelt „Für Elise“ in Dauerschleife aus einem Lautsprecher am Fahrzeug. Die Mitarbeiter müssen ganz schön stark sein hier. Von diesen gibt es am Standort Malaysia übrigens einige: 3040 Personen arbeiten im Werk vor Ort; zwei Drittel Männer, ein Drittel Frauen. Und Effizienz wird hier großgeschrieben: Einmal pro Monat treten die Mitarbeiter zu einem Arbeitstest in ihrem Bereich an, in dem sie bestimmte Aufgaben präzise in einer bestimmten Zeit erfüllen müssen. Motivation gibt es durch die Tatsache, dass durch sehr gutes Bestehen ein Aufstieg innerhalb der Abteilung winkt – im Gegensatz dazu steigt man bei Nichtbestehen allerdings nicht ab, sondern wiederholt den Test einen Monat später.
Eine große Rolle spielt bei Shimano auch das gemeinsame Biken und soziales Engagement, wie uns in der nachfolgenden Präsentation erzählt wird. 200 bis 500 Shimano-Mitarbeiter machen alljährlich bei einer großen Blutspende-Aktion mit, zusammen werden Trails und Wege in den Bergen gesäubert und gepflegt oder, wie im vergangenen Jahr, 400 neue Mangrovenbäume gepflanzt – alles im Team. Desweiteren werden in Singapur und Malaysia regelmäßig von Shimano gesponsorte Rad-Veranstaltungen durchgeführt – beim größten Rennen in Singapur, dass auch über die Formel 1-Strecke führt, nehmen runde 11.500 Fahrer teil.
In der Firma geht mittlerweile die Führung in gewohntem Maße nach 30 Minuten zuende und wir halten fest: Länderübergreifend weht auch hier der Geist Shimanos durch die heiligen Hallen. Es wird unglaublich viel produziert, alles ist sehr ordentlich – und aufgeräumt wurde hier definitiv nicht extra wegen dieser müden europäischen Truppe, die heute im Gänsemarsch die Firma besichtigt hat. Hier sieht’s einfach immer so aus.
Wir beschließen unseren zweistündigen Malaysia-Urlaub mit einem Buffet-Mittagessen in der Firma und halten dieses in zwei Erkenntnissen fest:
- „less spicy“ in Malaysia bedeutet „ganz schön scharf“ für mitteleuropäische Münder
- antwortet ein Malaysier auf die Frage, ob ein Gericht scharf ist, mit „it depends“, bedeutet das „sehr scharf“
Wir schaukeln mit dem Bus bis zur Brücke, die Singapur von Malaysia trennt, und landen prompt im Stau an der Grenze. Zeit für ein ungeplantes, 90-minütiges Mittagsschläfchen, in den wir dank platternden Monsunregens vor dem Fenster sachte hineingewogen werden.
Next Level Metropole. Shimano Singapur
Die letzte Produktionsstätte dieses Trips steht an – Shimano Singapur im westlichen Teil Singapurs. Die 1973 eröffnete Firma ist die erste Produktionsstätte außerhalb Japans gewesen und welcher Ort würde sich da besser eignen als die asiatische Stadt mit einem der wichtigsten Umschlaghafen zwischen Ost und West, zwischen Tradition und Moderne? Mittlerweile arbeiten in Singapur 580 Angestellte in verschiedensten Bereichen. Vieles ist hier hier ähnlich zur Produktionsstätte in Malaysia: Es wird ebenso kaltgeschmiedet wie gestanzt, gefräst, wärmebehandelt – zusätzlich gibt es hier allerdings noch ein Tooling Centre. Auch in Singapur fokussiert man sich auf die Produktion der günstigeren Gruppen: Alivio, Acera, Altus, TourneyTX, Sora, Claris und Co. laufen hier vom Band, genauer: Innenlager, Ritzel, Umwerfer, Shifter und Schaltwerke.
Besonders fällt in Singapur auf, dass alle Türen und Durchgänge nach außen in der ganzen Firma tagsüber geöffnet sind. Durch die riesigen Schmiedeöfen ist es hier heiß wie in einerl finnischen Sauna, im Vergleich dazu ist es draußen nahezu erfrischend – also wird durchgelüftet. In Singapur kommen wir auch das erste Mal richtig nah an die Maschinen dran, und diese sind beeindruckend. Insbesondere die riesigen, laut stampfenden Stanzmaschinen haben es uns angetan – und der Blick auf die großen Zählerstände. Während in Shimonoseki 80.000-100.000 XT-Kurbeleinheiten pro Monat hergestellt werden (und sollte dies nicht reichen, könne die Menge problemlos verdoppelt werden, so Shimano), werden hier Hunderttausende Ritzel pro Monat aus den dicken Alu-Bändern herausgehauen. Pause macht hier keine der Maschinen, insbesondere die Warmschmieden müssen allein aus Produktionsgründen Tag und Nacht laufen. Um eine Maschine wieder auf Temperatur zu bringen, sind viele, viele Stunden nötig – das macht ein Abschalten praktisch sinnfrei.
Wahnsinnig gerne hätte ich die Maschine fotografiert, die einen Umwerfer bzw. die Führung dessen produzierte – alles in einem Rutsch: aus einem einzigen durchlaufenden Stahlband werden nacheinander die einzelnen Segmente ausgestanzt, im Abschluss alles final gebogen, abgeschnitten, ausgeworfen, pausenlos und in einem durch. Der Durchlauf: Ein Teil pro Sekunde, sechzig Umwerferführungen pro Minute. Beeindruckend. 60 Stück in 60 Sekunden bedeuten allerdings auch 60 Mal „RUMMS!“ und so hat Shimano begonnen, die lautesten Maschinen mit einem dicken Stahlkleid einzupacken und dort Türen einzusetzen, wo man sie braucht, einen satten Unterschied von 40 Dezibel macht das aus ( von 110 auf 70), und das ist definitiv ein hörbarer Sprung. Nach und nach sollen noch mehr Maschinen auf leise getrimmt werden, um die Gesundheit und Nerven der Arbeiter nicht mehr als nötig zu strapazieren.
Auch in Singapur wird fast alles inhouse gemacht und so kommt es nicht von ungefähr, dass man uns zum Schluss der Führung stolz das riesige Hochregallager zeigt. 13 Meter hoch und ewig lang ist es und hier lagern tausende Teile, automatisiert abrufbar. Abtransportiert werden diese von kleinen lustigen Fahrzeugen, auf denen neben Nummern auch englische Frauennamen aufgedruckt sind. Sieht witzig aus – führte aber irgendwann zu Chaos, erklärt uns die zuständige Mitarbeiterin. Nummern sind einfach besser zuzuordnen – deswegen heißen Daisy, Mona und Michelle nun wieder 11, 3 und 21. Um es noch weiter zu vereinfachen, werden auch hier ferngesteuerte Modelle getestet – aktuell aber zunächst auf einer Testrunde in einer Firma, um später keinen wildgewordenen, unausgereiften Roboterfahrzeugen hinterherjagen zu müssen.
Und draußen sind wir wieder. Wir laufen geradewegs in den nächsten Wolkenbruch hinein und flüchten uns wieder in den Konferenzsaal, wo wir die bereitgestellten Rennräder für die morgige Ausfahrt anpassen. Nach einem abendlichen Essen im Fischrestaurant mitten in Singapur fallen wir, wie so oft in den letzten Tagen, nur noch mit der Tür ins Hotelzimmer und schlafen direkt ein. Der Wecker steht auf 5:45 Uhr.
Skyline, Sport und Wolkenbruch
Endlich laufen auch die Oberschenkel-Motoren kurz an. Wenngleich wir kein Mountainbike fahren, so steht immerhin eine schicke Rennradrunde durch Singapur auf dem Plan. Wir starten um 6:30 Uhr und fahren direkt in den Sonnenaufgang hinein – zusammen mit dem Shimano-Begleitfahrzeug (ein Begleitfahrzeug! Wir werden angestaunt wie ein ProTour-Team) ein wahrlich erhebendes Gefühl. Als dann die Skyline in Sicht kommt, hat sich das erneut frühe Aufstehen wirklich gelohnt – ein erfrischendes Lockerwerden zum Start in den letzten Tag des Trips. Nachdem wir noch am Vormittag ausgecheckt haben, werden wir mit dem Bus an die wichtigsten Punkte in Singapur gelotst: Gardens By The Bay, Marina Bay Sands, Merlion, Little India, China Town (hier haben wir mitten in den Gassen vergessen, dass es um 16 Uhr immer schüttet. Merke: Der eigentliche Vorteil eines kalt klimatisierten Busses korreliert ungesund mit klitschnasser Kleidung), zum Schluss besichtigen wir das imposante Nationalstadion.
Zum Abschluss folgt noch ein kleines Shimano-Highlight: Die Shimano Cycling World am Singapore Sports Hub. Ähnlich wie im OVE Store in Japan gibt es hier, allerdings im XXL-Format, viel zu lesen, zu informieren und zu gucken. Modernste Technik lotst den interessierten Radfahrer per Touchscreen zu den besten Fahrradtouren der Stadt, der Vintage-Liebhaber findet im lichtdurchfluteten Nebenraum Fahrradklassiker zum Herausziehen, eindrucksvolle und kuriose Boliden geben sich hier ein Stelldichein mit den wichtigsten Shimano-Produkten zum Ausprobieren hinter Glas. Doch so spannend viele der Exponate sind – so langsam sind wir durch.
Zum vorletzten Mal besteigen wir unseren Bus und fahren zum Dinner, wo wir lernen, welche kuriosen Traditionen das Chinesische Neujahrsfest in einem Restaurant bietet – Chinesen und Singapurer hätten für unsere plumpen Silvesterbräuche nur ein mitleidiges Kopfschütteln übrig. Einchecken, Sicherheitskontrolle, Boarding um 1:30 Uhr nachts. Und was wäre dieser Trip ohne einen Singapore Sling, der gleichzeitig das Ende dieses Trips und den Start zum 13-stündigen Trip nach Hause markiert? Gut gesättigt geht es in den Flieger und zum ersten Mal in meinem Leben schlafe ich direkt in der Boeing ein, die sich sachte in den Singapurer Nachthimmel erhebt.
Nachschlag – Singapur: Impressionen aus der Stadt
Soviele Fotos, die aber alle nicht so richtig in den eigentlich Bericht passen mögen. Wer Lust hat – hier ist noch ein Nachschlag mit Impressionen einer eindrucksvollen Stadt. Beschließen werden wir den Shimano-Trip mit einem Interview, das die kommenden Tage erscheint.
Teil 1 verpasst? Shimano Hausbesuch Teil 1 – Shimano Japan
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